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MLN 117.3 (2002) 634-649



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Das Gedicht an sich.
Paul Flemings Trostsonett

Konstanze Fliedl


Was beim Verstehen eines Textes passiert, läßt sich beschreiben. Die kognitive Arbeit des Lesers ist als Rezeptionsakt theoretisierbar. Was aber eine Lektüre an Affekten hervorbringt, kann die Wirkungsgeschichte immer nur an empirischen Daten ablesen. Die mögen banal sein oder radikal, von einer Steigerung der Verkaufszahlen etwa bis hin zum Extremfall des Werther-Selbstmords. In jedem Fall sind es äußere Zeichen dessen, was als inneres Gefühl beim Lesen entsteht. Selbst dann noch, wenn ein Leser seinen Empfindungen schriftlichen Ausdruck gibt, tut er das mithilfe eines geregelten Codes, der die Turbulenzen der Begeisterung oder des Abscheus fixiert. Die Tiefe der subjektiven Bewegung, die eine Lektüre hervorrufen kann, wird daher nicht auszuloten sein. Sie ist paradoxerweise das stumme Geheimnis, welches der Text mit seinen Lesern teilt, und begleitet als unbekannte Größe das historische Wechselspiel der literarischen Wirkung. Wieviel Trost das folgende Gedicht im Lauf von 360 Jahren seinen Lesern tatsächlich geschenkt hat, bleibt deshalb vollkommen rätselhaft:

An Sich.

Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
Hat sich gleich wieder dich Glück' / Ort und Zeit verschworen.
  Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß' alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren. [End Page 634]
  Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /
  und eh du förder gehst / so geh' in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan /
dem ist die weite Welt und alles unterthan. 1

Für eine relativ kühle Wirkungsabsicht spricht der Umstand, daß sich Paul Flemings berühmtes Trostsonett als Gelegenheitsgedicht getarnt hat, gleichsam als Gebrauchsform für den Bedarfsfall. In Flemings nachgelassener Sammlung Teütsche Poemata findet man es unter dem Sammeltitel Von allerhand Glückwünschungen. "Glückwünschungen" dienten dem Anlaß; darunter fallen Genesungsgrüße, Hochzeitscarmina, Geburtstags- oder Namenstagsgratulationen. An sich ist das 25. Gedicht dieser Gruppe. Der Titel seines Vorgängers lautet: Auff Mons. Johann Christoffens von Uchtritz / Fürstl. Holst. Gesandten Kammer=Herrn/ ec. Seinem Nahmens=tag in der Moskaw. m. dc. xxxvj. (TP 575). Das nachfolgende Gedicht wiederum wurde Auff Mons. Lyon Bernulli / Fürstl. Holst. Gesandten Hofe=Junckern Nahmens=Tag / vor Kolumna auff der Moskaw m. dc. xxxvj. gehalten (TP 577). In seiner Funktion als Reisebegleiter der schleswig-holsteinschen Wirtschaftsdelegation nach Rußland hat Fleming die Mitreisenden zur Feier des Namenstags bedichtet, in diesen Fällen also den Kammerherrn und den Hofjunker des Holsteinischen Gesandten. Nichts an diesen Gedichten geht über das Niveau der üblichen Gelegenheitspoesie hinaus. Wenn es im Gedicht an den Hofjunker heißt: "Thu was dir wolgefällt / was uns bey reicher Lust / bey Ehren dich erhällt / was man von alters hat gethan bei solchen Festen" (TP 577), dann tut das Gedicht selber auch nichts anderes als was man bei solchen Anlässen "von alters hat gethan." Daß die Tradition ein Repertoire schicklicher Formen bereithielt, aus dem man sich bediente, ist offensichtlich; daß auch die freudigen Empfindungen der Gratulanten dem gesellschaftlichen Anlaß entsprechend modelliert waren, steht zu vermuten. Hier erübrigt sich der Anspruch auf die Intensität und Authentizität der Affekte als Gradmesser für die Qualität der Poesie; die Frage nach dem "persönlichen" Anteil Flemings an seiner Dichtung wäre von vornherein überflüssig. 2 Neben dem Kalkül der konventionellen [End Page 635] Form bliebe das vom Dichter empfundene Gefühl ebenso unkalkulierbar wie das beim Leser hervorgerufene.

Demgegenüber scheint das Gedicht An Sich immerhin mit viel größerer emotionaler Ernsthaftigkeit zu sprechen. Paradoxerweise verdankt sich dieser Effekt auch dem Umstand, daß es nicht um die Erregung, sondern um die Besänftigung von Gefühlen geht...

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