In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

MLN 117.3 (2002) 599-633



[Access article in PDF]

De revolutionibus.
Bahnen und Bahnungen im Werk Hölderlins

Hansjörg Bay


Wenn es eine geometrische Figur gibt, die einzustehen scheint für die Idee eines Absoluten, dann ist es diejenige des Kreises. Von Platon bis Hegel hat die abendländische Metaphysik denn auch auf diese Figur zurückgegriffen, um ihr Anliegen zu artikulieren. 1 Als vollkommen zentrierte und in sich geschlossene Figur symbolisierte der Kreis das Eine, Wahre, Unendliche, dem das vielfältige und mangelhafte Endliche unterworfen sein sollte. Wie fragwürdig diese Vorstellung heute geworden ist, zeigt die allgegenwärtige Rede von Dezentrierung. In geometrischer Metaphorik spricht sie aus, daß uns das Vertrauen auf jenes Eine, Absolute abhanden gekommen ist, das allem Dasein einen sicheren Grund zu verleihen und das Viele zu halten und zusammenzuhalten versprach. Zugleich zeigt sie aber auch an, wie hartnäckig uns das metaphysische Modell verfolgt, wie sehr wir noch immer von ihm her denken und sprechen und wie sehr es die Folie, wenn nicht Norm abgibt, vor der wir unsere Situation definieren.

Hölderlin, um dessen Texte es hier gehen soll, steht an der Schwelle zu unserer Moderne als—und das ist natürlich nur ein möglicher Begriff von Moderne—derjenigen Epoche, in der die Figur des Kreises ihre Tragfähigkeit verloren hat. Die Schwierigkeiten, die mit der Arbeit an dieser Schwelle verbunden sind, werden von heute aus gesehen leicht unterschätzt. Es ist jedoch nicht so, daß [End Page 599] sich der Stiftsgenosse und Freund Hegels von der Orientierung am Absoluten, Vollkommenen und in sich Ruhenden freudig verabschiedet hätte. Wenn sein von Brüchen durchzogenes Werk von den Dezentrierungen der Moderne nicht nur zeugt, sondern diese auch anerkennt, so geschieht dies erst durch das Scheitern eines insistierenden Verlangens nach Einheit, Ganzheit und Harmonie hindurch.

Fast schon plakativ signalisiert Hölderlins Schwellenposition sein Begriff der 'exzentrischen Bahn'. Er steht ein für ein Modell, das die zentrifugalen Kräfte programmatisch einzuholen und die menschliche Fluchtlinie in eine Art Kreisbahn zurückzubiegen versucht, das aber als dasjenige eines deformierten Kreises erhebliche Abstriche an der Vollkommenheit dieser Figur bereits hingenommen hat. Wenn dieses in den Vorstufen zum Hyperion entworfene und in der Endfassung des Romans schon nicht mehr erwähnte Modell selbst bereits ein Versuch ist, das, was die Kreisbahn stört, harmonisierend einzubinden, so zeigt sich in den Texten jedoch immer wieder, daß sein Versprechen uneingelöst bleibt und die begonnene Bahn nicht nur nicht hinführt, wohin sie soll, sondern auch keine Rückkehr mehr gewährt, daß die vorgezeichnete Kurve nicht gelingt und die Bahn abbricht in einem Bereich, den man mit den Anmerkungen zum Oedipus als 'exzentrische Sphäre der Toten' bezeichnen kann.

Folgt man Hölderlins Arbeit an der erwähnten Schwelle im Kontext der Rede von der exzentrischen Bahn, so begiebt man sich auf ein schwieriges Gebiet. Denn sowohl das Modell dieser Bahn selbst als auch seine Reichweite in Hölderlins Werk sind alles andere als unproblematisch; tatsächlich handelt es sich um einen seiner meistdiskutierten und umstrittensten Termini. Wenn ich mich an dieser Diskussion beteilige, so nicht nur, weil ich denke, daß man den Begriff auf eine andere Weise zu klären versuchen sollte als dies gemeinhin geschieht, sondern weil sich im Kontext einer solchen Klärung zeigen läßt, wie Hölderlin im Verlauf seines Schreibens das Sehnen und Streben nach dem Absoluten problematisiert und wie gerade die Arbeit am Hyperion seiner Abkehr von diesem Streben den Weg bereitet. Nach einigen Vorüberlegungen zum Begriff der exzentrischen Bahn werde ich daher im Durchgang durch die Transformationen des Bahnmotivs in Hölderlins Lyrik dessen Verschiebung vom All auf die Ströme und damit den übergreifenden Prozeß jener Abkehr skizzieren, um dann in einem weiteren Schritt zu zeigen, welche Bedeutung dem abgeschlossenen Roman in diesem Prozeß zukommt. 2 [End Page 600]

I.

Der Begriff der 'exzentrischen Bahn' taucht in Hölderlins Werk zweimal auf, und zwar an durchaus exponierter Stelle in den Vorreden zu dem 1794 in Schillers Thalia erschienenen Fragment von Hyperion und zur ein Jahr später entstandenen Vorletzten Fassung. 3 Im...

pdf

Share