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MLN 116.3 (2001) 579-595



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Note

Zimmermanns Ueber die Einsamkeit (1784/85):
Zur Rezeption des Werkes

Lieselotte E. Kurth-Voigt


Johann Georg Zimmermann (1728-1795) war eine der bedeutendsten Gestalten seiner Zeit, königlich großbritannischer Leibarzt in Hannover, Mediziner von europäischem Ruf, produktiver Schriftsteller und faszinierend vielschichtige Persönlichkeit. 1

Das Werk, das ihm anhaltenden Ruhm einbrachte, war Ueber die Einsamkeit (1784/85). 2 Seine erste Schrift zu diesem Thema, Betrachtungen über die Einsamkeit (1756), enthält Kontemplationen in aphoristischer Form, die sich mit persönlichen Problemen befassen. 3 Die zweite, das Fragment Von der Einsamkeit (1773), ist Vorstufe der endgültigen Untersuchung, die (nach Zimmermann) "allzukühn" beabsichtigt, "diesen großen Gegenstand" in einem "philosophischen Werk" zu behandeln, das noch niemand geschrieben habe. 4

Ueber die Einsamkeit ist nicht systematisch angelegt, sondern weitgehend digressiv. Die Schilderung erfaßt wiederholt dieselben Gestalten und Themen, umgibt sie mit neuartiger Argumentation und bietet identische, doch sprachlich variierte Schlußfolgerungen. Subjektive Betrachtungen erläutern die sachliche Darstellung, und anschauliche Erzählungen und Anekdoten erweitern die gebotenen Perspektiven. In diesem vielschichtigen Kontext bedenkt Zimmermann immer wieder "Schaden und Trost" der Einsamkeit, d. i. "eine Lage der Seele, in der sie sich ihren eigenen Vorstellungen überläßt" (E 1:2-3). Er sieht der günstigen Rezeption des Werkes entgegen [End Page 579] und hofft, daß man sein Buch als einen "nicht unbeträchtliche[n] Beytrag zu einer praktischen Untersuchung über menschliche Glückseligkeit" (E 1:9) aufnehmen wird.

Das Kapitel "Trieb zur Geselligkeit" (E 1:20-49) erwägt die Vorteile des Umgangs mit einem kleinen Kreis von geistesverwandten Menschen und warnt vor den Nachteilen des gesellschaftlichen Lebens, vor "Assemblees" und Bällen, "Visitenschnack" und geistloser Unterhaltung. Die dann folgende Abhandlung über den "Trieb zur Einsamkeit" (E 1:49-138) stellt zuerst deren Vorteile dar: Ruhe, Freiheit, Gelegenheit zur Selbstbesinnung und Muße zur schöpferischen Tätigkeit. Danach erfaßt sie einige der "elenden Beweggründe" für die Wahl der Abgeschiedenheit. Ein großer Teil dieses Bandes (E 1:139-392) verurteilt die Schattenseiten der "Möncherey," die durch die Lebensgeschichten der Heiligen (Antonius, Hieronymus u. a.) exemplifiziert werden. Ähnlich eingehend untersucht Zimmermann die verhängnisvolle Einwirkung der Einsamkeit auf die Einbildungskraft, vor allem bei Schwärmern (E 2:48-238), und ihren nachteiligen Einfluß auf die Leidenschaften, "zumal bey Einsiedlern und Mönchen" (E 2:239-520).

Das achte Kapitel dient seiner eigenen Sache. Hier schildert er den Streit mit Jacob Hermann Obereit, dem Schweizer Mystiker, der eine Schmähschrift gegen sein Fragment Von der Einsamkeit verfaßt hatte. Das war der Beginn einer Fehde, die--wie die Kontroverse um Zimmermanns Schilderungen Friedrichs des Großen (Ischer 342-419)--vor der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Unter Betonung der exzentrischen Züge Obereits, des "Weltüberwinders" und "großen Lichtgeistes," skizziert er das Leben seines Widersachers, um zu zeigen, wie er "ward was er [nun] ist" (E 3:12-104). Dabei spart er (wie in anderen Streitschriften) nicht mit Grobheiten und Beleidigungen.

Die nächsten drei Kapitel schildern den allgemeinen Nutzen der Einsamkeit (3:105-236) und erörtern ihre Vorteile für Geist (E 3:237-518) und Herz (E 4:1-298). In der Stille der Natur entwickelt der Geist seine Freiheit, wird geschult und zur Selbstvollendung geführt. Beobachtungen in der Welt werden hier verarbeitet und vertiefen die Menschenkenntnis des Betrachters. Die Einsamkeit bietet insbesondere dem Schriftsteller große Vorteile: seine Aufmerksamkeit wird nicht abgelenkt, sein Enthusiasmus nicht gedämpft, und er genießt ein Vergnügen, das "mehr werth ist, als alle Ehre der Welt" (E 3:415). Bedeutenden Gewinn vermittelt das Alleinsein auch dem Philosophen: "Weit grössere Wahrheit entfaltet sich in der Einsamkeit [...] dem Manne von Genie," der fern von der Welt seine Seele "verfeinert" (E 3:320-21).

Die Vorteile der Einsamkeit für das Herz sind ähnlich vielfältig. Empfänglich für ihre liebenswürdige Seite, erfreut es sich an den Schönheiten der Natur, die Zimmermann so enthusiastisch beschreibt wie die Dichter der Empfindsamkeit. Er schildert die erhabene Bergwelt...

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