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MLN 116.3 (2001) 601-605



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Book Review

Von den Möglichkeiten einer 'inneren' Geschichte des Lesens


Matthias Bickenbach, Von den Möglichkeiten einer 'inneren' Geschichte des Lesens. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1999. xiv, 288 pages.

Was heutigen Literaturwissenschaftlern vollkommen vertraut ist, nämlich das eigene Lesen zu lesen, indem die Lektüre stets einer gesonderten Beobachtungsinstanz ausgesetzt bleibt, stellt sich literaturgeschichtlich für den gelehrten ebenso wie für den "geneigten" Leser mitnichten als Selbstverständlichkeit dar. Matthias Bickenbach hat nun mit seinem Von den Möglichkeiten einer 'inneren' Geschichte des Lesens einen Versuch vorgelegt, weniger den Wandel des Leserverhaltens als die historische Entwicklung von Lektüretechniken selbst transparent zu machen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe ist offensichtlich: die Kulturgeschichte verfügt erst seit kurzer Zeit über die Aufzeichnungsmedien des Realen (Film und Grammophon), die als Zeugen von Leseszenen befragt werden könnten. Um daher Aufschluß über die vormoderne Form des Lesens und ihre jeweiligen Wandlungen gewinnen zu können, bleibt dieser Ansatz auf selbstreflexive und schriftliche Rechenschaften angewiesen, die vormalige Leser über ihre Lektüren abgegeben [End Page 601] haben. Während die einschlägigen Beiträge zur Leseforschung bislang stets auf Bestimmungen des Lesekontextes abhoben--etwa anhand von Analysen der Bedingungen von Alphabetisierung oder mithilfe sozialer Konfigurationen der Leser--und dabei die Lektüre zumeist als einheitliches und universales Verfahren beschrieben, wendet sich Bickenbach gegen diese anthropozentristischen Lesertypologien, um sich unmittelbar der schwierigen "Beobachtung der Kulturtechnik selbst" zu widmen.

Anhand zweier Leitunterscheidungen und ihrer möglichen Verschränkungen wird dazu die historische Differenzierung von Lektüreformen entfaltet. Zum einen strukturiert diese Formen die technische Unterscheidung zwischen lautem und stillen Lesen, die entgegen der verbreiteten Ansicht--zumindest rudimentär--bereits antiken Lesern geläufig war. Zum anderen findet, ausgehend von Lesepropädeutiken des 18. Jahrhunderts, eine praktische Unterscheidung des Lesetempos, die Unterscheidung zwischen cursorischer und statarischer Lektüre, zunehmend Verwendung. Mit dem Begriff "Leitunterscheidung" ist auch bereits das methodologische Vokabular herbeizitiert, auf das Bickenbach in seiner Studie vertraut: Angeleitet von Niklas Luhmanns Kommunikationsbegriff, dessen "Anschlußfähigkeit" seit einiger Zeit auch von Philologen für die Termini ihrer eigenen Theoriebaukästen untersucht und auf eine mögliche Anwendung hin überprüft wird, lehnt sich diese Studie--glücklicherweise "nur"--behutsam an eine systemtheoretische Terminologie an, um die Operation des Lesens mit den beobachtungstheoretischen, von Spencer Brown entlehnten Handgriffen des "Unterscheidens und Bezeichnens" zu analysieren. Für erste historische Gliederungen mag es hilfreich sein, einige wenige binäre Unterscheidungen auf die Literatur- und Kulturgeschichte zu projizieren. Doch in der weiteren Argumentation vermeidet die Studie eine allzu enge Anlehnung an das systemtheoretische Kommunikationskonzept. Genau in diesem vermiedenen Anschluß liegt eine Stärke des Textes, indem er eben nicht der Gefahr systemtheoretischer Rhapsodie auf lesehistorischem Terrain erliegt, sondern die Leitunterscheidungen tatsächlich lediglich als Anleitung benutzt, um den Wandel der Lektüreverfahren literaturgeschichtlich zu sondieren und näherhin mit aller philologischen Präzision zu beschreiben.

Nach der einleitenden methodischen Verortung fokussiert die Studie das Material mit einem eleganten Gestus: Die Problemlage der Frage, wie und ob man in der Antike laut oder still las, wird über eine Fußnote bei Christoph Martin Wieland eingelesen. Dieser kommentiert eine Stelle bei Lukian, daß alle Bücher von Wert zwangsläufig laut gelesen werden müssen, um sowohl dem Gehalt als auch der Schönheit der Stelle gerecht werden zu können. Diese Bemerkung konstituiert überhaupt erst das Problembewußtsein hinsichtlich einer Form des Lesens und bildet zusammen mit Friedrich Nietzsche, dem zweiten Kronzeugen einer Infragestellung der stummen Lesart der Alten und einer von ihm vorgeschlagenen Kunst des verzögerten und wiederholten Lesens, die Ausgangslage der Forschung zu historischen [End Page 602] Lektüretechniken. Im Anschluß an die formulierte Regel entfaltet Bickenbach ein Divertimento von Stellungnahmen dieser und anderer Gelehrter (von Aristoteles über Johann Matthias Gesner, Herder, Johann Adam Bergk bis hin zu Schopenhauer) zu ihren Lektüreverfahren und jeweiligen historischen Auffassungen mit zahlreichen, ihrerseits nicht weniger gelehrten Fußnoten.

Den Kronzeugenregeln folgen die zwei Hauptteile der Studie: einerseits die sogenannte Geschichte des Lesens, hier also die historische Genealogie der Lektüretechniken und -praktiken mit...

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