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MLN 116.3 (2001) 564-578



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Lesenschreiben oder Schreibenlesen:
Überlegungen zu Genres auf der Grenze 1

Barbara Hahn


Die Bilderwelt hat sich geändert. Früher wurde mit aufrechtem Oberkörper geschrieben. Am Tisch, an einem Pult. Mit einem Stift auf Papier. Mit einer Maschine auf Papier. Eine Szene, die zumindest zwei Utensilien erforderte: etwas zum Schreiben und etwas zum Beschreiben. Zum Lesen dagegen brauchte man nur ein einziges Utensil. Lesen konnte man im Sessel, auf einem Stuhl, am Tisch, stehend, sogar gehend, auf einer Wiese liegend. Oder im Bett. Bekanntlich konnte man Männer und Bücher mit ins Bett nehmen.

Ein neues Bild: ein Bett, allerdings nicht zum Schlafen vorbereitet. Keine Kissen, keine Decke. Eine große farbige Liegefläche. Darauf ein laptop. Und ein liegender Mensch--von hinten. Eine Frau mit Knabenkörper. Eine Szene, die die tradierten Ordnungen von Lesen und Schreiben durcheinander bringt. Der liegende Körper ist mit einer Maschine beschäftigt--mit einer Leseschreib- oder einer Schreiblesemaschine. Nur ein Utensil. Wie traditionell beim Lesen. Die eine sichtbare Hand berührt die Tasten. Aber ob sie schreibt? Vielleicht bewegt sie den Cursor, vielleicht hilft sie lesen, wie eine Hand, die Seiten umblättert. Eine Hand, die ebenso wie der dazugehörende Körper nicht die begehrlichen Blicke der Betrachterin oder des Betrachters auf sich zieht. Der Blick wird vielmehr auf die Maschine [End Page 564] gezogen, die im Zentrum des Bettes liegt. Ein geschlechtslos oder gleichgeschlechtlich inszeniertes Bild.

Der arme Poet hat ausgedient. Auf Spitzwegs Bild sahen wir einen Mann im Bett, einen Schirm über sich gespannt. In den Kissen sitzend, die Knie hochgezogen, so daß sie eine Schreibunterlage bilden. Keine erotische Szene. Sondern die Inszenierung einer domestizierten und immer schon männlich konnotierten Genialität, die sich auch in einer kalten Dachkammer einzurichten weiß. Ausgedient haben auch die Schreibszenen, in denen Frauen Briefe an ferne Geliebte oder geliebte Autoren schrieben. Keine Frau mehr an der Schreibmaschine--mit oder ohne Kopfhörer. Stattdessen ein homoerotisch inszeniertes Bett, mit einem begehrten Objekt in der Mitte, vor dem alle gleich werden.

Lesen und schreiben. Seit der allgemeinen Alphabetisierung um 1800 waren diese Kulturtechniken nicht mehr scharf voneinander zu trennen. Seit Lesen zum stummen, fast unbeweglichen Vorgang wurde, seit es weder durch Bewegungen der Lippen oder gar des Körpers dargestellt werden durfte, war diese Tätigkeit näher an das Schreiben gerückt. Beide erschienen als Prozesse, aufs engste mit der Produktion und dem Entschlüsseln von Sinn verbunden. In der Instanz moderner Autorschaft etablierte sich ein Unterschied zwischen Lesen und Schreiben entlang der Trennungslinien der Geschlechter. Und seither wurden Praktiken entwickelt, die diese Trennung zu unterlaufen suchen. Bis nicht mehr klar war, ob geschrieben oder gelesen wurde. Jemand unterstrich, schrieb in ein Buch. Füllte die Ränder mit Anmerkungen, bis kaum noch weißer Raum auf den Blättern blieb. Oder eine andere Szene: ein Schreibtisch. Darauf nicht nur Bücher oder Manuskripte und Schreibzeug. Sondern auch Schere und Klebstoff. Hier ging das Lesen ins Schreiben, in die Produktion eines neuen Textes über. Leseszenen, bei der die Grenze zum Schreiben im Fluß gehalten wurde.

Der neuen Maschine auf dem Bett ist diese Produktionsweise immer schon eingegeben: cut and paste. Die gängigen Textverarbeitungsprogramme zeigen in ihren Programmleisten kleine Bildchen, die die alte Technik zitieren. Eine offene Schere und ein Pinsel, an dem Klebstoff hängt. Cut and paste--eine Technik, deren Ikonographie auf eine Verbindung von Bildern hinweist. Und damit sogar ein Stück historischer Realität transportiert. Als die Bilder laufen lernten, mußte Bild an Bild, Bild an Schrift geschnitten werden. Der Film ist das Medium der Montage par excellence. Von dort wanderte die Technik des Montierens in andere Bereiche der [End Page 565] bildenden Künste. Schneiden und Kleben sind die Produktionsmechanismen der Montage, die im Kontext des Dada entstand. In der Weimarer Republik dann auch die ersten literarischen Montagen--wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Texte also, in denen nicht nur das geschieht, was jedem Schreiben implizit ist: einen Raum auszuschreiten, der immer schon von Gelesenem strukturiert ist, das--implizit oder...

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