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  • Gesagtes und Ungesagtes in der Sage 1
  • Peter Henninger (bio)

Am Anfang unserer Überlegungen stehe folgende, 1919 aufgezeichnete Fassung einer schwedischen Sage:

1. Ein Knecht berichtete seinem Herrn, daß sein Pferd vom Alpdruck geplagt wurde. Der Herr sagte: “Ich werde es heilen”, und band eine Sense auf den Pferderücken mit der Schneide nach oben. Am Morgen, [End Page 493] als der Knecht den Stall betrat, lag der Hausherr in zwei Teile gespalten tot auf dem Boden.2

Auf diese vier berichtenden Sätze folgt noch ein erklärender letzter: “Er war also der Werwolf, ohne daß er selbst es wußte.”3 Frappierend ist mit welcher Selbstverständlichkeit die Volkssage, die vielfach das praktische Problem der Entlarvung jener unheilstiftenden Truden, Hexen, Werwölfe u.ä. behandelt (die Entdeckung des Dämons im Nachbarn, der Hausmagd, der Ehefrau usw.), hier seine noch unvermutetere Gegenwart in der eigenen Person an die Seite stellt. Fügen wir zu dieser ersten Geschichte eine zweite hinzu, die sich mit ihr in manchem berührt:

2. Im Stedingerlande diente ein Knecht, der hatte die Gabe, daß er allen Vorspuk sehen konnte. Stand wo ein Todesfall bevor, so mußte er aus dem Bette und auf die Diele gehen, da stand der Sarg,—und jedesmal starb der, den er gesehen hatte, binnen Jahresfrist.

Als es ihn wieder einmal auf die Diele trieb, sah er den Sarg, allein den Toten, der in den Linnen lag, erkannte er nicht. Wart, dachte er, ich will dich schon ausmachen; wenn ich dich morgen treffe; und er nahm sein Messer und schnitt dem Toten über der Stirn ein Büschel Haare ab. Wie sie am nächsten Morgen beim Trinken saßen, da sagte die große Magd zu dem Knechte: “Du, wer ist dir denn bei den Haaren gewesen diese Nacht?” Der Knecht sah zu und sah, daß er selber es gewesen sei, dem er heut nacht die Locke abgeschnitten hatte (DVS, 5). 4

Wir brechen das Zitat hier ab. Das Thema der Vorausdeutung erweitert sich in der Folge zu dem der Unentrinnbarkeit des angekündigten Schicksals. Soweit aber handelt die Sage, wie die vorige, von den Hemmnissen der Selbsterkenntnis. So wie es dort der Sensenprobe bedurfte um die Wahrheit ans Licht zu bringen, so bedarf es dazu auch hier eines Schnitts. Nur setzt der Knecht nicht wie jener Herr den ganzen Leib der Schneide aus, sondern nur eine Locke.

Auffällig ist die zweite Geschichte durch die Form ihrer Mitteilung, namentlich an einer Stelle. Der Passus “Er nahm sein Messer und schnitt dem Toten über der Stirn ein Büschel Haare ab” [End Page 494] erweist sich als ihr strategischer Punkt. Für sich genommen ergäbe der Satz einen leicht faßlichen Sinn. Er bezeichnete Geläufiges (es kommt vor, daß man einem Toten Haare abschneidet um sie als Andenken zu bewahren). Anders im gegebenen Kontext. Dort hat “dem Toten” nicht mehr die konkrete Bedeutung ‘Leiche’, sondern meint den antizipierend als Toten gesehenen Lebenden, eine Todesvision also (vgl. die Stelle “allein den Toten . . . erkannte er nicht”). Diese erweiterte Bedeutung des Wortes aber verträgt sich mit dem begleitenden Zeitwort nicht. Einer Vision kann man nichts ‘abschneiden’. Beim Weiterlesen ergibt sich, daß die Stelle interpretiert werden muß als lautete sie: ‘Er nahm sein Messer und schnitt sich über der Stirn ein Büschel Haare ab’. Daraus geht hervor, was der originale Satz leistet. Er hält mit der Einsicht, daß der Knecht es ist, der binnen Jahresfrist sterben muß, so lange hinterm Berg, bis dieser in der Geschichte selbst dahinter kommt. Der Wortlaut macht es möglich, daß in dieser Hinsicht der Leser/Zuhörer das Schicksal der Erzählperson teilt. Betrachten wir was letzterer widerfährt daraufhin genauer. Der Knecht sieht sich tot im Sarg und erkennt sich nicht. Der Grund solcher Blindheit ist leicht einzusehen. Daß er das Messer an den eigenen Haarschopf legt, zeigt allerdings: er weiß im Grunde sehr wohl, wo er dran ist. Das Nicht-Ausmachen-Können der Spukerscheinung verdeckt nur sein Betroffensein, so wie im Text der Ausdruck “dem Toten” das Reflexivpronomen ‘sich’ verdeckt.

Und wie verhält es sich beim Zuhörer oder Leser? Wir haben schon hingewiesen auf die retardierende Wirkung...

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