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  • "Flucht und Vertreibung" in Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene und Menschenflug und in Günter Grass' Im Krebsgang
  • Martina Ölke (bio)

Am 3. Februar 2002 bekannte Günter Grass im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seine persönliche "große Schuld," dass er "über die deutsche Vertreibung geschwiegen" habe (Braese 171). Zwei Tage später weitete er dieses zunächst noch persönliche Bekenntnis zu einer (Selbst-)Anklage gegenüber der "deutschen Nachkriegsliteratur" aus (171). Zugleich formulierte Grass programmatisch, er habe "dieses Versäumnis nachholen" wollen (171). Als ein Ergebnis seiner Bemühungen erschien zwei Tage später, am 5. Februar 2002, seine Novelle Im Krebsgang. Auch in der Fiktion des Textes gibt es einen Autor, der sich mit zunehmendem Alter schuldhaft bewusst wird, über ein zentrales Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, nämlich die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, geschwiegen zu haben. Dieser Autor, unschwer zu erkennendes Alter Ego Grass', sucht sich einen jüngeren "Ghostwriter" (Grass 30), der den Auftrag bekommt, "dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben" (99). "Eigentlich [...] wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen," diese Geschichte – speziell die Geschichte des untergegangenen Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" – zu erzählen:

Niemals [...] hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos [...].

(99)

Für den Autor selbst sei es mittlerweile "zu spät" (77), darüber zu schreiben – er sei "leergeschrieben" (30), "müdegeschrieben" (99), heißt es, was angesichts eines ihm so notwendig erscheinenden Themas als Begründung nicht recht überzeugt. Immerhin bietet dieser erzähltechnische Kniff – die Abgabe des Erzählens an einen Angehörigen der nachfolgenden Generation – die Möglichkeit, die generati onenübergreifenden Auswirkungen dieser vermeintlichen Geschichts-Verdrängung zu verdeutlichen. Denn, auch wenn die deutschen Leiden hier endlich ausführlich geschildert werden sollen, der eigentliche Gustloff-Untergang wird doch nur relativ kurz berichtet, es besteht durchaus ein Widerspruch zwischen dem Anspruch, [End Page 115] das "von aller Welt vergessene, nein, aus dem Gedächtnis gedrängte" (120) Geschehen endlich berichten zu wollen, und der insgesamt knappen Realisierung dieses Vorhabens innerhalb des Textes. Mehr Raum bekommt – und genau dazu braucht Grass' Erzählfiktion die Übertragung der Schreibaufgabe auf den jüngeren "Ghostwriter" – die Darstellung der für die bundesrepublikanische Gesellschaft problematischen Folgen dieser vermeintlichen Verdrängung. Da werden, in deutlicher Symmetrie, sowohl Philo- als auch Antisemitismus der jüngsten, also der dritten Generation thematisiert, die gleichermaßen als zerstörerische Irreleitung verurteilt werden: Tabuisierung gebiert Rechtsextremismus, so die Gleichung des Aufklärers Grass.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier habe ein alt gewordener Autor – liebevoll wird auch das Autor-Alter Ego in Im Krebsgang immer wieder als der "Alte" (100 u.ö.) betitelt – noch einmal seine angestammte Rolle als öffentlicher Mahner einnehmen wollen. Und insofern geht es auch nicht in erster Linie um eine nachgetragene Darstellung der Leiden der Flüchtlinge, sondern um eine aktuell gültige Aussage zur bundesdeutschen Gegenwart der Jahrtausendwende. Die Stoßrichtung des Textes basiere, wie Thomas E. Schmidt in der Zeit pointiert feststellte, auf einer bestimmten Vorstellung von den "Funktionen und Möglichkeiten der Literatur," die nach Ansicht Grass' eine "Rolle auch in der politischen Öffentlichkeit" zu spielen habe, also "engagierte Literatur" sein solle:

Was nach Selbstbezichtigung klingt, ist die Apotheose des bundesdeutschen Linksintellektuellen: [...] wie mächtig fühlt er [Grass] sich noch immer, wenn er hofft, durch Umerzählen potenziell rechter Mythen das öffentliche Klima noch einmal abzukühlen.

(Thomas E. Schmidt, "Ostpreußischer Totentanz" 34)

Grass' Novelle erlebte einen unmittelbaren Publikumserfolg – nach wenigen Tagen waren die ersten 100.000 Exemplare bereits vergriffen und stand das Buch bei Amazon auf Platz eins, sechs Auflagen erschienen allein im ersten Monat. An diesem Erfolg war der Göttinger Steidl-Verlag selbst nicht ganz unbeteiligt, hatte der doch die Auslieferung des Textes um zwei Wochen vorverlegt, und zwar in unmittelbare zeitliche Nähe zur TV-Besprechung Marcel Reich-Ranickis. Und auch im Feuilleton wurden der Text und die öffentliche Selbstbezichtigung Grass' mit größter Aufmerksamkeit kommentiert: Bereits einen Tag vor dem vorgezogenen Erscheinen der Novelle...

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