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  • Politik im literarischen Museum?Zum Verhältnis von Erinnerung und Politik in der Gegenwartsliteratur
  • Claas Morgenroth (bio) and Vera Viehöver (bio)

In den Feuilletons der großen Zeitungen und Zeitschriften wird seit Jahren die Abwesenheit der Politik in der literarischen Produktion der Gegenwart beklagt. Meist ist bei dieser Gelegenheit davon die Rede, dass die zeitgenössische avancierte Literatur den Blick auf die Vergangenheit zwar nicht scheue, ja eher forciere, aber das in der Geschichte aufgehobene kritische Potential nicht für die Literarisierung einer anderen Gegenwart nutze. Diesem Vorwurf liegt ein spezifisch deutsches Verständnis von Politik und Literatur zu Grunde, das in Folge der Gruppe 47, der 68er Debatten und vermittelt über literarische Persönlichkeiten wie Heinrich Böll und Günter Grass das Politische literarischer Texte mit dem politischen Engagement des Autors und der politischen Brisanz des Stoffes identifizierte. Zwar war diese Auffassung von politischer Literatur von Anfang an auch Gegenstand von Kritik, doch offenbart erst die seit den 90er Jahren geführte und bis heute nicht aufgelöste Kontroverse um Popliteratur versus "Hochliteratur," dass dieses tradierte Verständnis der Relation Literatur/Politik seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat.

Der Ursprung dieser Verunsicherung liegt mindestens zwanzig Jahre zurück und korrespondiert mit Auseinandersetzungen, die außerhalb der Literatur in den Feldern von Geschichte und Politik geführt wurden (vgl. Frei; Mouffe; Scharenberg/ Schmidtke). Das Ergebnis dieser Veränderungen wurde spätestens Mitte der 90er Jahre spürbar und führte zu einer spezifischen Kontingenz des Historischen und des Politischen, zur Revision des entsprechenden begrifflichen Apparates. Die Rede vom Ende der Geschichte steht für eine anhaltende Irritation, die vor allem eines gezeigt hat: dass die Architektur von Geschichte und Politik neu verhandelt werden kann, dass wir, wie es heißt, in der "Kontingenzgesellschaft" leben (vgl. Holzinger).

Vermittelt über den sogenannten "Gedächtnisdiskurs," in dem beide Komplexe, Geschichte und Politik, zusammentreten, hat die Welle der Verunsicherung nunmehr sowohl die literarische Produktion selbst als auch deren wissenschaftliche Aufbereitung erfasst. Jan Assmann hat in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses – wenn auch in Absehung vom politischen Diskurs – die Bedeutung dieser Debatte so zusammengefasst: "Alles spricht dafür, dass sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, [End Page 100] Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen lässt. Mit anderen Worten: die Dinge sind im Fluss" (11). Von Beginn stand die Frage nach der Medialität, d.h. nach den medialen Formungen und Formen der Vermittlung von Erinnerung und Gedächtnis, im Zentrum der Diskussion um das "neue Paradigma" (vgl. Borso/Krumeich/Witte; Erll/Nünning). Angeregt durch die kulturwissenschaftliche Debatte um das Verhältnis von Medialität und Gedächtnis interessierte sich nun auch die Literaturwissenschaft mehr als zuvor für die narrativen Konstruktionen von Erinnerung, d.h. – erzähltheoretisch gesprochen – für die Ebene des discourse (der Vermittlung von Erinnerung), dem die story (der Gegenstand von Erinnerung) nachgestellt wurde. Das sozialhistorische Korrelat dieses Paradigmas liegt in der Überzeugung, dass vor allem der radikale Medienwandel für den gegenwärtigen "memory boom" verantwortlich ist, der, wie Andreas Huyssen in seinem Buch Present Pasts kritisch angemerkt hat, die Politik in einen alles verschlingenden Sog der Musealisierung hineinziehe. Diese durchaus pessimistisch gestimmte Diagnose ergibt sich aus der grundlegenden Annahme, dass Politik zum Opfer eines mächtigen, aber falschen Erzählprinzips geworden sei, der Nostalgie. Politisch sein wird in dieser Perspektive zu einem Unfall retrospektiver Lebensführung, zu etwas, das durch die Erinnerung hindurch nur noch ein vergangenes Datum neben anderen ist.

Blickt man auf einige der großen kulturpolitischen Debatten der letzten Jahre – man denke an den Historikerstreit, die Diskursivierung der Wiedervereinigung, die Walser-Bubis-Debatte oder die argumentative Aufbereitung des ersten Auslandseinsatzes der Bundeswehr –, dann fällt auf, dass das Verhältnis von story und discourse, also die Art und Weise der erzählerischen Vermittlung erinnerten Lebens, ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückte. Allerdings, und auch das zeigt die Kritik Huyssens, wurde bei dieser Gelegenheit ein Politikbegriff reproduziert, der jenseits der Narrativik steht. Systemtheoretisch gesprochen, liegt dieser Position der Wunsch zugrunde, dass Politik sich frei zu halten habe von ihr vermeintlich fremden...

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