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  • DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele
  • Michael Augustin
Günter Kunert : DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele (Göttingen: Wallstein Verlag, 2006)

Wer 77 Jahre alt ist und ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt „DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele", darf sich nicht wundern, wenn der Leser beim Lesen dem „alten Manne" das Gesicht des Verfassers gibt. Außerdem wird er dabei dann auch noch tatkräftig unterstützt durch den Autor in dessen Eigenschaft als Zeichner, tragen doch fast alle der mit schnellem Strich skizzierten, dem Textkörper zugefügten Porträts nur schwer verkennbar die Züge dessen, der als Urheber zeichnet: Günter Kunert. Ein Buch, vor dem gewarnt werden muß. Und zwar generationenübergreifend: Wer jung ist, erfährt hier über das Alter wahrscheinlich mehr, als ihm lieb sein kann. Und wer selber alt ist, sieht sich möglicherweise genau so bloßgestellt, wie Gott ihn einst erschuf: Als saugefährliche, liebenswerte, schwer verdauliche, alles verdauende und merkwürdigerweise auch alles überdauernde Fehlkonstruktion. „DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele": Er unterhält sich mit ihr, und er läßt sie für sich sprechen – das ist natürlich eindeutig doppeldeutig. Aber damit nicht genug: Diese 80 kurzen Seelenwanderungen im Schlepptau des Dichters führen über doppelbödiges Terrain, unter dem der interessierte Hobbyarchäologe oder gar der Totengräber auf weitere doppelte Böden stieße, grübe er denn drauflos.

Der Alte Mann

blättert in seinem Telefonverzeichnis.Alles Nummern von Toten. Wieerreiche ich Euch, Freunde.Die Drähte sind gekappt, dieSargdeckel versiegelt. Meine Stimmedringt nicht mehr durchin den ewigen Frieden. MitAntworten rechne ich nicht mehr.Eure Fotos schweigen herzlich.Als Schatten treffen wir unswieder einmal, ohne daß dieeinander etwas zu sagen hätten: [End Page 298] Als daß wir unsim Hades so verlassen fühlenwie zu Lebzeiten.

Für diese poetischen Kleinodien benutzte Kunert während der Schreibarbeit noch den Begriff „Un-Gedichte", ganz dialektisch eingedenk der Tatsache, daß ja auch im „Un- Gedicht" das Gedicht schlummert oder besser: sich zu Wort meldet. Wer unbedingt eine Genrebezeichnung für diese kurzen, mit gedichtähnlichem Zeilenbruch versehenen, filigranen Gebilde benötigt, der darf sie sich selber ausdenken und mit Bleistift in den freien Raum des Vorsatzes nachtragen. Im Klappentext ist nüchtern-sachlich von „Miniaturen" die Rede - und Miniaturen sind es ja in der Tat, mit denen wir es hier zu tun haben. DER ALTE MANN, mit dieser in Versalien gesetzten Zeile beginnt ein jedes der selbstironiegeladenen, melancholiedurchflossenen Zauberstücke des zu Kaisborstel- Schenefeld im Schlewig-Holsteinischen residierenden betagten Herrn: DER ALTE MANN erinnert sich, DER ALTE MANN läßt den Globus rotieren, ist vergeßlich geworden, übt vor dem Spiegel Einsteins Mimik, zweifelt an der Kugelgestalt der Erde, ist ein Totschläger, sucht einen Schamanen auf und nach einer Glücksdefinition, tastet sich die Treppe hinunter, sinniert, überlegt, telefoniert, weint und kämpft keuchend mit seinen Schuhen.... Und der Leser, neugierig gemacht, darf dem alten Mann unverschämterweise dabei zugucken, wie der, beladen mit seinen Erfahrungen, Zweifeln, Fotoalben, Utopiefragmenten und Bildungsbürden auf sein neunzigstes Lebensjahrzehnt zuschreitet, tappst und wankt. Das ist urkomisch manchmal, voller Witz immerzu – und bewegend für Kopf und Herz. DER ALTE MANN, der entpuppt sich hier als ein Seelenund Geistesbruder des berühmten Herrn Cogito, dem einst der polnische Poet Zbigniew Herbert Seele und Leben einhauchte. Tatsächlich – und das ist ein Leseeindruck, der sich von Text zu Text, von Un-Gedicht zu Un-Gedicht, von Miniatur zu Miniatur verstärkt - DER ALTE MANN, diese aus dem „Kunert'schen Selbst" geschöpfte Kunst-Figur ist ein ernstzunehmender Kandidat für das Walhall der literarischen Serienhelden: Da könnte er nämlich gut stehen. Oder noch besser, weil bequemer: Sitzen. Bei einer Flasche Rotwein – mit besagtem Herrn Cogito, neben Henri Michauxs Monsieur Plume und Italo Calvinos Signor Palomar sowie – last not least - dem Herrn Keuner von Bert Brecht... Kunert ist mit diesem Buch in eine feine Gesellschaft geraten!

Der Alte Mann

weint: Ich esse das Brotder Ungeborenen. Bitteres Brot.Aber Hunger tut weh. Und das Altermacht wehleidig. Ach, Ihr K...

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