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  • Literatursprünge. Das erzählerische Werk von Friederike Helene Unger
Birte Giesler . Literatursprünge. Das erzählerische Werk von Friederike Helene Unger. Göttingen: Wallstein, 2003. 352 S. Euro 28. ISBN 3-89244-652-0.

Literatursprünge ist die erste Monographie über das erzählerische Werk einer der be-deutendsten und von der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung viel gerühmten Schriftstellerinnen des 18. Jahrhunderts. Friederike Helene Unger ist, ähnlich wie Benedikte Naubert oder Therese Huber, eine der produktivsten Schriftstellerinnen, die auch als Übersetzerin und Publizistin tätig war. Sie gilt auch als eine der ersten voll-professionellen Unternehmerinnen Deutschlands, da sie nach dem Tod ihres Mannes, Johann Friedrich Unger, den berühmten Unger-Verlag selbstständig leitete, in dem die prominentesten Autoren und Autorinnen ihre Werke publizierten, unter ihnen Goethe, Schiller, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Caroline Auguste Fischer, Caroline von Wolzogen, Ludwig Tieck u. v. a. Sie veröffentlichte ein umfangreiches Schrifttum, befand sich im Mittelpunkt des literarischen Lebens Berlins und korrespondierte mit vielen Persönlichkeiten der Literatur- und Kulturgeschichte um 1800. Dennoch ist ihr Leben und Werk bisher von der Literaturkritik nicht in angemessener Weise zur Kenntnis genommen worden. Für die langjährige Nichtbeachtung ihres Werkes lassen sich mehrere Argumente anführen: Einerseits wurden literarische Werke von Frauen allgemein bis in das 20. Jahrhundert vernachlässigt, weil die Literaturforschung mit dem Maßstab der Klassik gemessen wurde und die Werke, die diesen ästhetischen Kriterien nicht zu entsprechen schienen, eher als "trivial" abgewertet wurden. Andererseits hat Unger die meisten ihrer Werke anonym publiziert, was zur Folge hatte, dass ihre Werke lange Zeit nicht tradiert wurden.

Giesler versucht in den einleitenden Kapiteln "eine möglichst umfassende Gesamt-schau" (11) des erzählerischen Werkes von Unger zu geben und bietet, neben der Re-zeptionsgeschichte zum Leben und Werk der Schriftstellerin, auch eine kurze Vorstellung einzelner zwischen 1800 und 1810 veröffentlichter Texte. "Neuentdeckt" wird der, laut Giesler, "von der Literaturwissenschaft bislang unberücksichtigte" (11) Roman Rosalie und Nettchen von 1801, in dem Unger den zeitgenössischen Literaturbetrieb ironisch-spielerisch diskutiert. Hier wird auch die Methodik der vorliegenden Untersuchung kurz vorgestellt, die sich der "kulturumfassenden Intertextualitätstheorie" bedient, um die Intertextualität im Werk Ungers zu verfolgen und die möglichen "Referenztexte in die Interpretation einzubeziehen" (10). Im Folgenden werden, alle im zweiten Kapitel, weitere Werke kurz diskutiert, darunter die Romane Gräfinn Pauline (1800), Albert und Albertine (1804), Melanie, das Findelkind (1804), Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben (1806), Die Franzosen in Berlin oder Serene an Clementinen in den Jahren [End Page 79] 1806,7,8. Ein Sittengemälde (1809), Der junge Franzose und das deutsche Mädchen. Wenn man will, ein Roman (1810) sowie die 1804 im Berlinischen Damen-Kalender anonym publizierte Erzählung Auguste von Friedensheim. Diesem recht gedrängten Teil folgen die Analyse des Romans Julchen Grünthal (1784/98) und die Untersuchungen von der Literatursatire Prinz Bimbam. Ein Mährchen für Alt und Jung (1802) sowie der Erzählung Louis und Louise (1802). Dem umfangreichen bibliographischen Anhang, der neben der Forschungsliteratur und Quellen auch ein "möglichst vollständiges" (311) Werkverzeichnis enthält, geht eine kurze Schlussfolgerung voraus.

Fast alle Literaturforscher und -forscherinnen, die sich mit dem Werk von Frie-derike Helene Unger beschäftigt haben, kamen zu dem folgenden Ergebnis: Alle Werke der Autorin setzen sich mit den zeitgenössischen Geschlechterrollen und den Vorstellungen von Weiblichkeit auseinander, wobei die Thematisierung weiblicher Identität in engem Zusammenhang mit intertextuellen Formen und Schreibweisen steht. Ungers Texte beziehen sich ausführlich auf einzelne philosophische sowie ästhetische Werke und literarische Muster der Zeit und setzen sich mit den gängigen Konventionen und Schreibweisen ironisch-spielerisch auseinander, wobei Goethes 1796 im Unger-Verlag publizierter Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der für die germanistische Literaturforschung als Paradebeispiel des Bildungsromans schlechthin gilt, den An-satzpunkt für nahezu alle Prosawerke Ungers bildet (vgl. dazu die Publikationen von Zantop, Bailet, Kammler, Henn und Hufeisen, um nur wenige Namen zu nennen).

In Gieslers Ausführungen stehen die hochgradige Intertextualität und inhaltliche sowie formale Komplexität der Ungerschen Prosa im Mittelpunkt des Interesses. Da Ungers Texte die um 1800 herausgearbeiteten Geschlechterkonzepte kritisch und pointiert aufgreifen, indem sie die Genderthematik mit intertextuellen Formen und Schreibweisen verknüpfen, stellt Giesler die Frage, "ob und in welcher Weise die Texte dabei die Funktion und die Beschaffenheit von Literatur selbst reflektieren" (10). So wird der Roman Julchen Grünthal nicht nur in Bezug auf andere konkrete Einzeltexte gelesen und inhaltlich verglichen, z.B. mit den Romanen von Crébillon, Marivaux, Richardson, Rousseaus Nouvelle Héloise, Goethes Stella u.a., sondern er wird auch formal untersucht und im Kontext zeitgenössischer Konzepte der Spätaufklärung, der Empfindsamkeit, der Klassik und der Romantik analysiert. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf der genderkritischen Re-Lektüre der Gattungsgeschichte zum Bildungsroman sowie zu einer Neuschreibung der Theorie zur Gattung. Durch den Bezug zu Goethes Wil-helm Meisters Lehrjahre und zur Gattung Bildungsroman zeigt sich Julchen Grünthal als "schmerz- und entsagungsvolles Gendering der weiblichen Geschlechtsidentität" (308). Prinz Bimbam. Ein Mährchen für Alt und Jung wird als eine Märchen- und Bildungsromansatire gelesen, die "die mediale Vermittelheit geschlechtlicher Identität am deutlichsten" diskutiert (308). Die Erzählung Louis und Louise wird als Kritik am Liebeskonzept der Romantik analysiert, wobei die Auseinandersetzung mit den um 1800 herrschenden national-kulturellen Stereotypen eine bedeutende Rolle spielt. Dem-zufolge werden die intertextuellen Bezüge zwischen Ungers Erzählung und Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten näher untersucht.

Die wenigen Schwächen und Ungenauigkeiten dieser Studie fallen gegenüber den ausführlich dokumentierten und interessanten Analysen wenig ins Gewicht. Das mehr als 160 Seiten lange Kapitel zu Ungers Julchen Grünthal enthält manche Gedanken, die schon andere Literaturforscher und -forscherinnen hervorgehoben haben (vgl. Zan-top, [End Page 80] Kontje). In der Forschungsliteratur fehlt der von Elisabeth Krimmer im Journal of Popular Culture (2000) publizierte Aufsatz "A Spaniard in the Attic: The Texture of Gender in Friederike Helene Unger's Rosalie und Nettchen," der als die erste Veröffentlichung zu diesem Roman gilt. Nicht berücksichtigt wird auch die von Anne Thiel an der Goergetown Universität (USA) angenommene Dissertation "Verhinderte Traditionen: Märchen deutscher Autorinnen vor den Brüdern Grimm," die unter anderem auch ein längeres Kapitel zu Ungers Prinz Bimbam enthält und für Gieslers Studie rele-vant ist. Schließlich hätte man einer so informativen und materialreichen Arbeit ein Personen-, Sach- und Begriffsregister gewünscht, das die Herstellung von Begriffen, Werken und Personennamen recht erleichtert hätte.

Diana Spokiene
McMaster University

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