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Reviewed by:
  • The Juridical Unconscious: Trials and Traumas in the Twentieth Century
  • Martin Blumenthal-Barby (bio)
Shoshana Felman, The Juridical Unconscious: Trials and Traumas in the Twentieth Century. Princeton: Harvard University Press, 2002. 253 Seiten.

Wie Shoshana Felman unlängst bemerkt hat,1 markiert die Einordnung literarischer Fragen unter geschichtswissenschaftliche und rechtliche Kategorien einen Wendepunkt in ihrem Werk. Als Markstein läßt sich das 1992 zusammen mit Dori Laub publizierte Buch Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History nennen. In ihrer jüngsten Studie, The Juridical Unconscious: Trials and Traumas in the Twentieth Century, richtet Felman den Fokus auf die Verhältnisse zwischen Recht und Literatur sowie Recht und Gerechtigkeit. Das Buch untersucht zwei konkrete Gerichtsprozesse, die Felman als paradigmatisch einstuft hinsichtlich der Wechselbeziehungen zwischen Recht und Trauma im 20. Jahrhundert. Es handelt sich um den Eichmann-Prozeß (1961) und den Prozeß von O. J. Simpson (1995)—zwei Gerichtsverfahren, die von Beginn an als "Jahrhundertprozesse" (5) verhandelt wurden. Beide Prozesse sind dadurch charakterisiert, daß in ihnen das Recht, welches traditionellerweise auf Bewußtseins- und Erkenntnismomente abzielt, um zwischen konträren Standpunkten vermittelnd zu wirken, unterminiert scheint von psychischen Prozessen, die dem Bewußtsein unzugänglich sind oder ihm widerstreben. Eine juristische Sprachfindung bleibt unerreicht, die notwendigen Zeugenaussagen ungehört (4). Die Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumas scheint seine juristische Wahrheitsfähigkeit in Frage zu stellen. Inwieweit nun—so die kardinale Problemstellung—können individuelle Schuld und kollektives Trauma vom Niveau eines kollektiven Gefühlshaushalts in eine juristisch verhandelbare Narration überführt werden? Hieraus erwächst im Eichmann-Prozeß, jenseits aller Fragen der individuellen Schuld Eichmanns, die Notwendigkeit, den traumatischen Erfahrungen der Holocaust-Opfer Rechnung zu tragen, d. h. dem Trauma jüdischer Identität in Hitlers Europa zu begegnen. In vergleichbarer Weise treffen im Simpson-Prozeß das Trauma mißbrauchter Frauen auf Seiten der Anklage und das Trauma des "Rassen"-Hasses, das Trauma afroamerikanischer Identität in den Vereinigten Staaten auf Seiten der Verteidigung, aufeinander (4). [End Page 703]

[W]hen a jury or a court, as in the O. J. Simpson case, confronts the trauma in the courtroom, it is often inflicted with a particular judicial blindness that unwittingly reflects and duplicates the constitutional blindness of culture and of consciousness toward the trauma. A pattern emerges in which the trial, while it tries to put an end to trauma, inadvertently performs an acting out of it. Unknowingly, the trial thus repeats the trauma, reenacts its structures.

(5)

Diese verschobene Wiederholung einer verdrängten geschichtlichen Wahrheit bezeichnet das "juridical unconscious." Es manifestiert sich nicht nur als vom Gerichtsverfahren demonstrierte Blindheit gegenüber dem Trauma; seine eigentliche Gestalt findet das "juridical unconscious" in Form zwanghafter affektiver Eruptionen auf der Bühne des Rechts, mittels derer die Kompensation der eigenen Unmöglichkeit justitiabler Artikulation gesucht wird (182). Ein schauerliches Beispiel eines solchen traumatischen Ausbruchs findet Felman im Eichmann-Prozeß, als der unter dem Pseudonym "K-Zetnik" publizierende Schriftsteller Yeheiel Dinoor, der Eichmann in Auschwitz persönlich begegnet war, im Zeugenstand steht, das Wort ergreift—und im nächsten Moment kollabiert. Dieser spektakuläre Augenblick stellt den dramatischen Höhepunkt des Eichmann-Prozesses und das konzeptionelle Zentrum von Felmans Buch dar. Felman hält eine in der umfangreichen Literatur zum Eichmann-Prozess singuläre, höchst originelle Interpretation dieser Szene bereit. Ihre Analyse entwickelt sich als Gegenentwurf zu Hannah Arendts ironischer "Dokumentation" derselben Szene2 ; bahnbrechende Einblicke wie auch fragliche Momente von Felmans Studie finden sich hier konzentriert.

Felmans Methode der Prozeßanalyse divergiert deutlich von konventionellen Verfahrensanalysen, in denen Fragen der Schuld und Unschuld des Angeklagten im Zentrum stehen. Erste Ansätze dieses Paradigmenwechsels findet sie in den Nürnberger Prozessen, die sich die Wiederherstellung des rechtlichen globalen Gleichgewichts zur Aufgabe machten, und Gerechtigkeit weniger als reine Frage des Strafmaßes denn als emanzipierendes Moment von Gewalt definierten, ja, Recht als therapeutischen Diskurs verstanden (1). "Modern law enforcement," schreibt der Yale-Rechtstheoretiker Paul Gewirtz,

continues to struggle to find an appropriate place for victims and survivors in the criminal process . . . Indeed, no movement in criminal law has been more powerful in the past twenty years than the victim's rights movement, which has sought to enhance the place of the...

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