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MLN 119.3 (2004) 541-563



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Wider den 'Anlaß' der Gewalt. Darstellbarkeit in Jahnns Fluß ohne Ufer

Universität Paderborn

"Die oft sonderbare Form meiner Werke ist nicht das Produkt pfiffiger Überlegung wie bei Thomas Mann, sondern ein Teil des Wachstums meiner Gedanken", heißt es in einer bekannten Selbststilisierung Hans Henny Jahnns bezüglich der Abfassung von Fluß ohne Ufer. Demnach habe er als Autor dem noch zu Schreibenden gegenüber "mit unerbittlicher Konsequenz" eine Haltung völliger "Ahnungslosigkeit" (FoU 3, 767)1 angenommen. Aus dieser hätte sich dann, eher Zufall und Impuls folgend, die Textur der Trilogie in ihrer Uneinheitlichkeit und ihrem ungezügeltem Ausmaß ergeben. Anstelle einer Erläuterung der spezifischen ästhetischen Konstruktion tritt das stereotyp anmutende Beharren auf einer dichterischen Inspiration, welche aber keinesfalls auf das Gelingen des eigenen Schreibens hinauslaufen muß: "Ich besitze auch nicht die kleinste Spur von Routine, bin also das Gegenteil eines Schöngeists, allerdings auch sehr, sehr weit von Hölderlin entfernt." (FoU 3, 768) Die vorgebliche 'Ahnungslosigkeit' der Schreibinstanz gegenüber dem zu Schreibenden ist jedoch, wie in nachfolgender Lektüre aufgezeigt [End Page 541] werden soll, insofern von bemerkenswerter Konsistenz, als daß sie ihrerseits als poetologische Problemstellung die ästhetische Konstruktion des Textes organisiert, insbesondere die Erzähl- und Darstellbarkeit seines umfangreichen Mittelteils. Dieser widmet sich fast gänzlich der Frage, inwieweit von der Warte des Zufälligen aus eine Gewalttätigkeit des Zufälligen und unkalkulierbar Impulshaften als ein "unveränderbare[s] Schicksal" (FoU 3, p. 772) gefaßt—und das heißt letztendlich textimmanent: in Schrift festgehalten—werden kann. Ein besonderes Augenmerk gilt hier möglichen Spuren der Texte Friedrich Nietzsches, da der Kulturtheoretiker Jahnn eine Konvergenz von Zufall, Gewalt und Schicksal explizit an das Nietzscheanische Motiv einer 'ewigen Wiederkunft des Gleichen' anlehnt. Gegen Nietzsches Affirmation der Gewalt setzt der Text allerdings einen konträren Impuls, den des Mitleids, welcher sich der Destruktivität zwar nicht dauerhaft entziehen können wird. Doch erst dieser Gegenimpuls macht durch seinen temporären Widerstand Zufälligkeit in all ihrer Gewalt darstellbar—eben als Text des zweiten Teils von Fluß ohne Ufer, der Niederschrift des Gustav Anias Horn.

In erster Linie vom Zufall bedingt erscheint aus der Retrospektive die Entstehung der Trilogie: Ende 1936 lehnt der S. Fischer-Verlag Jahnns gerade entstandenen, vom Autor als eigenständige 'Novelle' apostrophierten Text Das Holzschiff mit dem Hinweis ab, er sei zu mysteriös und verdichte sich im Metaphysisch-Parabelhaften, ohne eine mögliche Auflösung auch nur anzudeuten.2 Ein hölzernes Segelschiff macht sich mit einer Ladung geheimnisvoller Kisten zu einem unbekannten Ziel auf. Neben dem Kapitän, seiner Tochter und deren Verlobten, Gustav Anias Horn, befinden sich noch der die Ladung beaufsichtigende Superkargo und die neugierige Mannschaft an Bord, zu welcher auch der Matrose Tutein gehört, der spätere Lebenspartner Horns aus dem zweiten Teil. Der Text entwickelt seine Dynamik über die Spekulationen der Figuren bezüglich Ziel und Ladung, in die auch noch die Andeutung einer beginnenden Affäre zwischen der Kapitänstochter Ellena und dem Superkargo einbezogen wird. Plötzlich verschwindet Ellena auf hoher See, ohne daß sie über Bord gegangen scheint. Spekulationen und gegenseitige Verdächtigungen nehmen zu. Die Mannschaft, Horn eingeschlossen, meutert, stürmt den Laderaum und bricht die Kisten auf, welche jedoch keinen Inhalt haben. In einer späteren, orgiastischen Suche [End Page 542] nach doppelten Böden oder geheimen Kammern zerstört die Mannschaft mitten auf dem Meer das Holzschiff, mit dessen Untergang die Novelle endet. Als Reaktion auf die enttäuschende Kritik beginnt Jahnn, noch vor der wenig später folgenden Annahme des Novellenmanuskripts durch den Payne-Verlag, mit der Abfassung eines Schlußkapitels, das die angekreideten Schwachstellen entkräften soll. Bald schon mutiert dieses Kapitel zum umfangreichen Text der Niederschrift, deren Abfassung erst Anfang 1945 abgeschlossen sein wird.3

Statt aber die Holzschiff-Parabel von der Sinnsuche durch Erklärungen zu erden, akzentuieren die auf 18 vollgeschriebene Manuskripthefte verteilten, einem Jahreszirkel zugeordneten 13 Kapitel die exakte Gegenbewegung: Das 27 Jahre nach...

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