In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

  • Topographie eines Familiengedächtnisses: Polen als Raum des Gegengedächtnisses in Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper
  • Norman Ächtler (bio)

“Literatur als Geschichtsspeicher?” fragt Thomas Wild in seiner Rezension von Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper. Diese Frage würde die Autorin sicherlich positiv beantworten. Tatsächlich formuliert Dückers mit ihrem Roman ein äußerst selbstbewusstes Plädoyer für eine zentrale Position der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Höchst selbstreflexiv mündet das Werk in ein Votum für die literarische Vergangenheitsbewältigung als dem einzigen produktiven Modus der Aufarbeitung von Geschichte (Himmelskörper 318). Die Autorin selbst, Jahrgang 1968, geht noch einen Schritt weiter. In Bezug auf Nationalsozialismus und Weltkrieg reklamiert sie in einem Interview für ihre Altersgruppe eine herausragende Funktion innerhalb des literarischen Gedächtnisdiskurses: “Meine Generation ist die erste, die einen nüchternen Blick auf dieses Thema wagen kann” (Partouche).

Damit macht sie sich zum Sprachrohr einer Gruppe junger Autoren von Marcel Beyer bis Stefan Wackwitz, die seit der Jahrtausendwende eine ganze Reihe von Texten verfasst haben, in denen sie Bezug nehmen auf eine Vergangenheit, die sie selbst nicht mehr miterlebt haben, und die vor allem die Erinnerungsgemeinschaft Familie in den Mittelpunkt ihrer Geschichten rücken. Nun ist dieser Trend literarischer Retrospektiven zwischen Fiktionalität und Faktizität weder neu noch auf die Generation der um die 30jährigen beschränkt (vgl. Eigler; Loster-Schneider). Dennoch bedeutet Dückers’ Provokation den Versuch, eine literarische “Enkelgeneration” (Kallweit 177) von den Zeitzeugen und der Zwischengeneration unter den Schriftstellern abzugrenzen und die eigenen Werke gegen deren literarische Erzeugnisse in Stellung zu bringen.

Während Literaturkritik und -wissenschaft vor diesem Hintergrund Himmelskörper größtenteils unter dem Generationenaspekt gelesen und versucht haben, anhand des spezifischen Zugangs der Enkel zur NS-Zeit einen Gruppenzusammenhang herzustellen (vgl. Ganeva; Schaumann; Stüben), fehlen bislang Untersuchungen, die sich dem Roman primär narratologisch nähern. [End Page 276] Dabei gilt es jedoch, auf der Strukturebene nachzuprüfen, inwiefern sich der Anspruch, im Rahmen des Handlungs- bzw. Sozialsystems Literatur einen Generationenwechsel zu vollziehen, auch auf das Symbolsystem Literatur auswirkt, sich also im Text selbst niederschlägt.

Die weitgehende Ausblendung einer narratologischen Perspektive wird der künstlerischen Komplexität des Romans nicht gerecht. Dückers reflektiert den Geschichtsdiskurs in Himmelskörper als einem fiktiven Erzähltext mit Hilfe von genuin literarischen Mitteln. Zentrale Aussagemomente finden sich auf der Strukturebene angelegt, wobei vor allem die Inszenierung von Figurendialog und die Raumsemantik als bedeutsame Aspekte des Handlungsgerüstes erscheinen. Beide sind eng miteinander verbunden und rücken deshalb im Folgenden exemplarisch ins Zentrum der Betrachtung.

Der erste Teil der Untersuchung widmet sich den verschiedenen Erzählerinstanzen des Romans. Dückers präsentiert mit ihren Protagonisten drei Generationen einer Familie und stellt deren unterschiedliche Erinnerungen an die Zeit in Polen unter nationalsozialistischer Besetzung einander gegenüber. Mit der Konfrontation mehrerer Erinnerungsräume wird der Erinnerungskonflikt auf einer weiteren strukturellen Ebene inszeniert. Jede Figur ist auf dem Spielfeld des Romans einem ganz bestimmten Teilbereich zugeordnet, der als identifikatorisches Fundament wirkt. Vor allem dem Erinnerungsraum Polen kommt für den Verlauf der Handlung und der Entwicklung der Protagonistin Freia eine zentrale Funktion zu. Es wird in einem zweiten Schritt zu zeigen sein, wie dieser Erinnerungsraum gezielt semantisch aufgeladen wird und anhand eines Bezugssystems diametral zugeordneter Eigenschaften von dem Erinnerungsraum BRD abgesetzt wird. Die vermeintlichen Opfer werden bereits auf der Ebene der Raumgestaltung als die eigentlichen Täter entlarvt. Abschließende Bemerkungen kehren im Sinne eines Resümees nochmals zu dem eingangs zitierten Diktum der Autorin zurück und fragen nochmals nach den Möglichkeiten der Enkelgeneration, den Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs narrativ zu inszenieren.

Der Zusammenhang von Literatur und Gedächtnis bildet seit einiger Zeit einen Schwerpunkt der Philologie, wobei zentrale Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bereits speziell für die Textanalyse fruchtbar gemacht wurden (vgl. Erll; Erll/Nünning, Medien des kollektiven Gedächtnisses; Erll/Nünning, Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft; Gansel; Neumann, Erinnerung – Identität – Narration; Oesterle). Die Applikation gedächtnistheoretischer Erkenntnisse auf das Instrumentarium der Narratologie ermöglicht die Identifikation einer spezifischen Rhetorik der Erinnerungsliteratur und die Analyse ihrer Funktionsweise. Zentrale Untersuchungsgegenstände der Erzähltheorie lassen sich interpretieren als entscheidende Funktionsträger...

pdf

Share