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  • Renaissance oder Resonanz: Kunst und Wissenschaft des Fliegens bei Leonardo da Vinci
  • Viktoria Tkaczyk

Der Dichter und Philosoph Paul Valéry verweist in seinem Buch über Leonardo da Vinci fast beiläufig auf einen Zusammenhang, der gesonderte Aufmerksamkeit verdient. “Seine Freude”, schreibt Valéry über Leonardo, “lebt sich in den schmückenden Festdekorationen aus, in reizenden Erfindungen, und wenn er davon träumt, einen fliegenden Menschen zu konstruieren, lässt er ihn in die Lüfte steigen, um Schnee von den Gipfeln der Berge zu holen und im Sommer auf das vor Hitze brodelnde Pflaster der Städte zu streuen.”1

Tatsächlich war Leonardo als Ingenieur in zahlreichen Feldern zugleich tätig. Er entwarf Theatermaschinen für das oberitalienische Festwesen ebenso wie Kriegs-, Landwirtschafts-, Bau- oder Flugmaschinen. Dennoch scheint die heutige Forschung teilweise wieder eine Grenze zwischen der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit Leonardos zu ziehen, zumindest bleibt die Theaterarbeit des Renaissanceingenieurs in der äußerst umfangreichen Forschungsliteratur zu dessen Flugstudien konsequent ausgeblendet.2 Leonardo hätte jedoch, so möchte ich behaupten, seine Flugstudien nicht im selben Ausmaß unternommen, wäre er nicht zugleich auch Zeuge und Ausstatter einer Theater- und Festkultur gewesen, in der spektakuläre Flugeffekte eine übergeordnete Rolle spielten.

Die wissenschaftliche Erforschung und technische Realisierung des Fliegens stellte zur Wende des 16. Jahrhundert noch immer ein Tabu dar. Antike Mythen wie der Ikarusmythos oder die christliche Legende vom Sturz des Simon Magus warnten vor physischen ebenso wie vor geistigen Höhenflügen.3 Gleichwohl hinterließ Leonardo mehr als 500 Entwurfsskizzen zu verschiedenen Flugmaschinen; die ersten datieren auf 1485, die letzten auf 1515. Diese Skizzen haben heute einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Leonardo aber vertraute sie seinerzeit nur geheim gehaltenen Heften an. Zudem lässt sich nicht nachweisen, dass er seine Maschinenentwürfe jemals realisiert, geschweige denn erprobt hat.4

Das Festwesen hingegen stellte für Leonardo ein legitimes Experimentierfeld dar, das es ihm erlaubte, phantasievolle Flugwerke zu gestalten, die teilweise augenfällige technische Parallelen zu seinen Flugmaschinenentwürfen aufweisen. Die scheinbar über den Straßen schwebenden Wagen der italienischen Passions- und Triumphzüge, die sich von Kirchendecken senkenden Flugwerke im religiösen Spiel und die verschiedenen ex machina-Effekte höfischer Aufführungen schürten eine neuartige Flugfaszination, die sich auf Leonardos wissenschaftliches Interesse am Flug ausgewirkt haben mag.

Zwar verband Leonardo seine Theaterarbeit selbst nicht explizit mit der Flugforschung. Ich möchte jedoch zeigen, dass sich zwischen beiden Tätigkeitsfeldern rückblickend durchaus Resonanzeffekte ausmachen lassen. In methodischer Hinsicht greife ich dabei auf das Resonanzmodell des New Historicism zurück. Stephen Greenblatt hat das Wunder und die Resonanz als zwei Modi der ästhetischen Erfahrung von (Kunst)-Objekten beschrieben: Es gebe (Kunst-)Ausstellungen in deren Rahmen die Exponate wie Wunderwerke angesehen werden, sie ziehen den Betrachter vollkommen in ihren Bann, wecken ein distanzloses [End Page 27] Begehren und eine ungehemmte Aufmerksamkeit. Es gebe aber auch Ausstellungen, in welchen die (Kunst-)Objekte im Betrachter eine Ahnung davon wach rufen, durch welche Hände sie einmal gewandert waren, wer sie geschaffen, geformt, gebraucht, sich angeeignet, ausgestellt oder literarisch beschrieben hat. Den (Kunst-)Objekten sei anzumerken, dass sie einmal zwischen künstlerischen und außerkünstlerischen Repräsentations- und Aneignungspraxen zirkuliert waren; diese Verhandlungsprozesse um das (Kunst-)Objekt wirkten in demselben nach. Diesen Effekt des Nach- und Mitklingens der Geschichte bezeichnet Greenblatt als Resonanz:

[T]he effect of resonance does not necessarily depend upon a collapse of the distinction between art and non-art; it can be achieved by awakening in the viewer a sense of the cultural and historically contingent construction of the art objects, the negotiations, exchanges, swerves, exclusions by which certain representational practices come to be set apart from other representational practices that they partially resemble.5

Für den Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt wird die so verstandene Resonanz zum Ausgang einer Analyse, die den Spuren der historisch besehen weit zurückliegenden literarischen Verhandlungsprozesse um das vermeintliche (Kunst-)Objekt folgt.

Im Folgenden wird es mir um solche literarische Spuren, aber auch um bildliche Spuren gehen. In der Gegenüberstellung der Schriften und Skizzen, die Leonardo von seiner Tätigkeit als Festgestalter und Flugforscher zurückgelassen hat, soll deutlich werden, inwiefern diese rückblickend auf ein Resonanzverhältnis...

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