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  • Die Wunde RAF: Zur Reziprozität von Fiktion und Terrorismus im Spiegel der neuesten Sekundärliteratur
  • Gerrit-Jan Berendse (bio)

Am 7. September 2008, einige Wochen vor der Premiere von Uli Edels Film Der Baader Meinhof Komplex, warnte der Politologe Wolfgang Kraushaar in einem Artikel in Die Welt künftige Kinogänger, sie würden einen der größten Abenteuerspielplätze der deutschen Geschichte betreten, der einem Produkt aus Hollywoods Unterhaltungsindustrie ähnele. Kraushaar schreibt in seiner Vorschau, der Film verspreche nichts mehr als “den Kitzel jener Thrill-Effekte [...] für Actionfilme typisch” und sei ein weiteres Beispiel für die unselige “Verklärung der Roten Armee Fraktion,” die bereits seit langem “insbesondere zum Metier von Schriftstellern, Theater- und Filmemachern geworden” sei. Er fragt sich, weshalb gerade die RAF sich zu Fiktionalisierungen eignet, wodurch es mittlerweile zu so vielen hemmungslosen Mythisierungen von Baader, Meinhof & Co. gekommen ist (“Der Baader Meinhof Komplex”). Zugegeben: Der Film hat es geschafft, insbesondere eine junge Generation in unterschiedlichen europäischen Ländern mit dem 1985 erschienenen Standardwerk von Stefan Aust bekannt zu machen und sie auf diese Weise über eine wichtige Phase in der deutschen Gegenwartsgeschichte zu informieren. Andererseits lenkt das Spektakel, das sich auf der Leinwand abspielt, aber zu sehr von den historischen Hintergründen des Politikums, auf die die Vorlage gerade ausführlich eingeht, ab, trägt der Streifen somit äußerst wenig dazu bei, tiefere Einblicke in das den 1970er Jahren dominierende Phänomen RAF und dessen Voraussetzungen zu gewinnen. Aus diesem Grund setzt Kraushaar seine Karten auf die Historiografie und nicht auf die Kunst, denn für ihn zählen jene Fakten, die er in seinen vielen Publikationen zur Studentenbewegung und zum deutschen Linksterrorismus überzeugend und auf eine solche Weise präsentiert hat, dass jeder möglichen Mythenkonstruktion vorgebeugt wird. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Seiten 1117 bis 1170 im zweiten Band des von Kraushaar 2006 herausgegebenen Konvoluts Die RAF und der linke Terrorismus genau diesen, von ihm verschmähten so genannten “Verklärungsmethoden” gewidmet sind. Dort lässt er zum Beispiel von Luise Tremel die literarischen Darstellungen der bekanntesten linksterroristischen Organisation der Bundesrepublik zwischen 1970 und 2004 auswerten. Den Literarisierungen werden vom Herausgeber zwar offenbar ausgiebig Platz eingeräumt, in seiner etwa fünfzig seitigen Einleitung [End Page 10] erwähnt er jedoch mit keinem Wort, dass diese ein wichtiger Bestandteil der – wie Kraushaar es selbst nennt – “Topologie des RAF-Terrorismus” sind.

Die Beziehungen zwischen Terrorismus und Ästhetik, besonders zwischen der RAF und Literatur, kennt eine lange und reichhaltige, wenngleich komplexe Geschichte, oder mit anderen Worten: sie spielt alles andere als eine untergeordnete Rolle in der RAF-Forschung. Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik ist unmittelbar mit der Entstehung und Entwicklung der terroristischen Organisation verbunden, zugleich ist durch den mittlerweile sich ausdehnenden zeitlichen Abstand zum Phänomen die kulturelle Erinnerung ein willkommenes Mittel, Geschichte von unterschiedlichen neuen Blickwinkeln aus zu interpretieren. Das Beziehungsverhältnis beschränkt sich nicht ausschließlich auf den RAF-Kontext, sondern erstreckt sich ebenfalls auf andere, weit in die Geschichte zurückliegende als auch aktuelle Diskurse über den Terrorismus. Es ist mehrfach codiert und erstreckt sich in unterschiedlichen Richtungen, ist – um mit Michael Rothberg zu sprechen – “multidirectional.” Aber gerade die Exkursionen in andere, auch fremde Kulturen und Zeiten schärfen den Blick für den Forschungsgegenstand, der unmittelbar mit der deutschen Nationalgeschichte verknüpft ist.

Was das Verhältnis zwischen Ästhetik und Terrorismus angeht, will ich meine 2005 eingenommene Position korrigieren, da sich diese zu sehr an bestimmten Formulierungen von Karl Heinz Bohrer orientierte, will somit Abstand von seinem Konzept des Bedingungsverhältnisses nehmen: Statt dessen soll die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen politischer Gewalt und Ästhetik hervorgehoben werden. Ich möchte hier die Beziehung nicht als Symbiose oder Bedingungsverhältnis postulieren, wie es Bohrer 1998 in seinem Merkur-Aufsatz vorschlägt. Er ging damals insbesondere auf die Gewaltikonografie in den bildenden Künsten ein, auf das “In-Erscheinung-Treten” destruktiver Energien, die er in den Gemälden des Briten Francis Bacon aufgedeckt hat (291). Die Einseitigkeit im Beziehungsverhältnis in der Sekundärliteratur, die mit Begriffen wie “Darstellung,” “Repräsentation,” “ästhetischer Gestaltung,” “Erinnerung,” “Literarisierung” oder “Verarbeitung” angedeutet wird, soll hier vermieden werden. Wie ich in meinen Forschungsbeitr...

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