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  • Das Glück ist eine Allegorie. Christian Fürchtegott Gellert und die europäsche Aufklärung Von Sikander Singh
  • Gerhard Sauder
Das Glück ist eine Allegorie. Christian Fürchtegott Gellert und die europäsche Aufklärung. Von Sikander Singh. München: Fink, 2012. 263 Seiten. €34,90.

Gibt es eine Gellert-Renaissance? Immerhin liegen seine Gesammelte[n] Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe (1988–2008), herausgegeben von Bernd Witte und Mitarbeitern, vor. In Sammelbänden von 1990 und 2009 wurde das Werk aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Sikander Singh, Mitarbeiter an der Kritischen Ausgabe, hat 2010 eine schmale Monographie vorgelegt (vgl. meine Rezension in Das achtzehnte Jahrhundert 37.1 [2013]), der nun eine weiter ausgreifende Darstellung, seine Düsseldorfer Habilitationsschrift, folgt. Der Untertitel deutet den Rahmen an, in den nun Gellerts Werke gestellt werden. Zehn Kapitel beleuchten seine “Horizonte,” mögliche “Deutungen” und “Spiegelungen.”

In einleitenden Überlegungen situiert der Verfasser Gellerts Lebenszeit (1715–1769) zwischen dem Todesjahr Ludwigs XIV. und Ludwigs XVI. Tod 1793 auf dem Schafott. Gellert habe die widerstreitenden Tendenzen dieser Zeit erfahren, die zunächst noch von der Teilhabe aller Menschen an den Glücksgütern dieser Welt träumte und den Glauben an die göttliche Ordnung der Welt zu bewahren suchte. Literatur und Vernunft sollten sich so wenig wie Verstand und Gefühl ausschließen. Gellert rezipierte die englischen Sensualisten, Gottscheds Regelpoetik und Breitingers sensualistisch orientierte Lehre. Nach der Publikation der Lehrgedichte und Erzählungen (1754), der Sammlung vermischter Schriften (1756) und der Geistliche[n] Oden und Lieder (1757), der letzten literarischen Veröffentlichung Gellerts, war seine Produktivität erschöpft; dem englischen Reisenden Boswell, der ihn am 5. Oktober 1764 [End Page 306] besuchte, gestand er: “Mit meiner Dichtkunst ist es aus” (17). Die Spannung zwischen rhetorischer Stringenz, moralischer Überzeugung und literarischer Mehrdeutigkeit konnte er nicht auflösen.

Die drei Kapitel über Gellerts Melancholie und sein Verständnis von Aufklärung, die Funktion des Zweifels und seinen Stilbegriff zeigen die Filiationen, die ihn mit der französischen und englischen Aufklärung verbinden. Chodowieckis berühmter Kupferstich “Aufklärung” soll die Bedeutung der Lichtmetaphorik für die Erkenntnis von Aufklärung belegen. Gellert hat sein Aufklärungs-Verständnis nicht explizit formuliert—seinen Werken ist zu entnehmen, dass er darunter einen politisch-sozialen Entwurf verstand, der durch verbindliche Formen des sozialen Verhaltens ideale Zustände schaffen wollte. Dazu trägt Religion als Basis der Moral bei; auf ein pädagogisches Moment können auch die literarischen Werke nicht verzichten. Das kritische Urteils- und empfindsame Gefühlsvermögen dienen als Mechanismen der Selbstdisziplinierung, die auch Schwermut als einen Temperamentsfehler zu zügeln sucht. Am Beispiel des Gedichts “Der Polyhistor” werden verschiedene Arten der Lebensführung beleuchtet. Gellerts Ironie wird als Kategorie einer empfindsamen Wirkungsästhetik verstanden. Daraus entsteht in den Fabeln und Erzählungen stilistische Mehrdeutigkeit. Unter der Thematik “Englische Krankheit” fasst der Verfasser die Anregungen durch englische Arbeiten über Melancholie (R. Burton, E. Young) zusammen. Mit den Night Thoughts hat sich Gellert wiederholt befasst. Schwermut thematisiert er als Aspekt der Vergänglichkeit, Prüfung und Form religiöser Erfahrung des Menschen.

Im dritten Kapitel geht es um die Begriffsgeschichte des Zweifels im Rekurs auf Descartes, der darin das bedeutendste Werkzeug des menschlichen Denkvermögens sah. Auch Boileaus Poetik, auf die sich Gellert mehrfach beruft, rekurriert auf Descartes’ Discours. Die von Gellert kontinuierlich weiterentwickelte Definition des Zweifels ist für ihn eine moralische und didaktische Kategorie.

Das vierte Kapitel erörtert Fragen des Stils und der Individualität bei Buffon und in der Gattung “Brief.” Gellert hat den lebenswirklichen Ursprung seiner Musterbriefe (73) betont. Sie sollen sich durch Kürze, Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Darstellung des Individuellen auszeichnen—grundlegendes Stilprinzip ist Natürlichkeit. Die Tendenz der Sammlung zum fiktionalen Briefroman wird hervorgehoben—zunächst in der elementaren Bedeutung der Freundschaft. Der Brief wird nicht so sehr als Medium gesehen, wie es die Mode des letzten Jahrzehnts dekretierte, sondern erfährt seine Wertschätzung im Prozess des Schreibens. Die gebrochene Identität des schreibenden und liebenden Ichs in Goethes Werther ist paradigmatisch. Singh greift angesichts der Fülle möglicher interpretatorischer Zugänge auf die ältere Deutung des Textes als eines verweltlichten Modus’ des individualisierten religiösen Erlebens...

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