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  • Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne Hrsg. von Patricia Fritsch-Lange und Lutz Hagestedt
  • Thorsten Carstensen
Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne. Herausgegeben von Patricia Fritsch-Lange und Lutz Hagestedt. Berlin und Boston: de Gruyter, 2011. xi + 275 Seiten. €89,95.

In wissenschaftlichen Kreisen und unter Schriftstellern mit poetologischem Anspruch galt Hans Fallada (1893–1947) lange als Autor, dessen angeblicher Mangel an ästhetischer Finesse und theoretischer Reflektiertheit eine Deutung im Kontext der literarischen Moderne nicht zu rechtfertigen schien. Wilhelm Genazino hat diese Bedenken einmal recht harsch auf den Punkt gebracht: “Dieser Autor hat keine Ästhetik gestiftet, er hat keine weltanschaulichen Varianten begründet; es gibt nicht einen Aufsatz von ihm, über den heute noch nachzudenken wäre” (215). Der Popularität Falladas jenseits der Germanistik tat dies freilich keinen Abbruch, wobei es allerdings bezeichnend ist, dass seine jüngste Renaissance eben nicht in Deutschland begann: Es ist der in Brooklyn ansässige Verlag Melville, der in den letzten fünf Jahren geradezu märchenhafte Auflagen mit den englischen Übersetzungen von Jeder stirbtfür sich allein und Der Trinker erzielt hat.

Wenn die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze den Blick auf die Modernität dieses Autors und seine “epochale Relevanz” (230) lenken, so drückt sich darin das begrüßenswerte Anliegen aus, eine methodische Neuausrichtung der in ihren Grundzügen biographisch orientierten Fallada-Forschung voranzutreiben. Wie schon [End Page 330] das 2009 von Carsten Gansel und Werner Liersch edierte Buch Hans Fallada und die literarische Moderne distanziert sich dieser Sammelband damit von Lektüren, die das Werk Falladas auf die Verarbeitung und Verschlüsselung eines von Suchterfahrung und Aufenthalten in Krankenhäusern und Gefängnissen geprägten Lebens reduzieren. Explizit verfolgen die Herausgeber das Ziel, Fallada als Vertreter einer “Synthetischen Moderne” (215, 222) zu rehabilitieren, in der sich Tradition und Avantgarde, Experiment und Konvention gegenseitig befruchten. Zugleich liefern sie damit einen kräftigen Einwand gegen die weit verbreitete Tendenz, den in Greifswald als Rudolf Ditzen geborenen Schriftsteller einseitig der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen. Wie Lutz Hagestedt in seinem abschließenden Forschungsbericht betont, werde an Falladas Texten vielmehr ein Spektrum erzählerischer Verfahrensweisen sichtbar, das von den expressionistischen Stilgesten des Frühwerks bis zum “ästhetischen Common sense” der späteren, unter den Bedingungen der Nazi-Herrschaft verfassten Romane reiche (216).

Die thematische Bandbreite der Beiträge ist nicht nur für sich genommen imposant, sondern trägt außerdem den vielfältigen Leseinteressen Falladas Rechnung. Gleich mehrere Abhandlungen befassen sich mit den wissenschaftlichen Diskursen, die der Autor in seinen 1937 erschienenen Inflationszeit-Roman Wolf unter Wölfen aufnimmt. So zeigt Stefan Knüppel, wie Fallada für die physiognomische Charakterisierung seiner Figuren auf medizinische Wissensbestände zurückgreift, während Hagestedt die dem Roman eingeschriebene Sexualpathologie mit Theorien Iwan Blochs und Magnus Hirschfelds in Verbindung bringt. Überhaupt signalisiert der Umstand, dass sich nicht weniger als acht der fünfzehn Beitrage intensiv mit Wolf unter Wölfen auseinandersetzen, einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel, wurde doch gerade dieser Roman, wie Gustav Frank und Stefan Scherer zeigen, aufgrund der stilistischen Eingängigkeit und der “unmittelbare[n] szenische[n] Anschaulichkeit” des Erzählens (26) in der Forschung lange Zeit unterschätzt. Das Etikett des ‘volkstümlichen Schriftstellers’ verstelle jedoch, so Frank/Scherer, den Blick auf Falladas “eigenständiges Profil” (35); seine Art der Darstellung von Wirklichkeit sei vielmehr als Ausgleich zwischen den modernen Zeitpanoramen Döblins und Brochs einerseits und realistischen Erzählmodellen andererseits zu verstehen (26). Frank/Scherer gelingt es, jene spezifische Modernität herauszuarbeiten, mit der sich Fallada von den experimentellen Autoren der Klassischen Moderne unterscheidet. So wird deutlich, dass Fallada, dessen Schreiben stets auf seine eigenen Bedingungen und Konventionen rekurriert (31), von der perspektivischen Auffächerung Gebrauch macht, wie sie für die amerikanischen Vorbilder Dos Passos und Faulkner typisch ist (32), ohne dabei die “Moral der Sinn- und Ordnungsstiftung” (35) aufzugeben.

Gerade in Bezug auf Falladas Spätwerk erweist sich die Auslotung narratologischer Aspekte als fruchtbar, das belegt auch Karl Prümms Beitrag zur “Kinokritik und Kinoprosa” des Autors: Anstatt dessen Werk als “Erfahrungsprosa” zu entziffern, akzentuiert er die Komplexität seines Erzählverfahrens. Dadurch erscheint Fallada “nicht mehr als der Getriebene seiner Ängste und S...

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