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  • Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz by Peter Utz
  • Christoph Weber
Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz. Von Peter Utz. München: Fink, 2013. 295 Seiten + 32 s/w Abbildungen. €39,90

Es mag auf dem ersten Blick befremdlich wirken, die Schweiz mit Katastrophen in Verbindung zu bringen. Die Alpennation ist mehr für ihre Stabilität, Schönheit und [End Page 126] Sicherheit bekannt: gewinnbringende Banken und Versicherungsgesellschaften, idyllische Berglandschaften und eine Neutralitätspolitik, die sie vor den Verheerungen zweier Weltkriege bewahrt hat. Der Lausanner Germanist Peter Utz präsentiert in seiner Monographie Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz eine differenzierte Perspektive auf die Mentalitätsgeschichte und mehrsprachigen Literaturen der Schweiz. Überzeugend stellt er dar, dass die Bewältigung von Katastrophen sowohl das Sicherheitsdenken wie das nationale Selbstempfinden der Schweiz grundlegend geformt und gefördert hat. Die kulturelle Auseinandersetzung mit Naturgefahren—Utz behandelt in thematischen Einzelkapiteln Erdrutsche, Lawinenniedergänge, Überschwemmungen und Feuerbrände—steht insofern in einem dialektischen Spannungsverhältnis. In ihrer akuten Phase stellen Katastrophen eine Bedrohung für die bestehende Gesellschaftsordnung dar. Sie setzen Energien frei, die zersetzend wirken und Tod und Verwüstung bringen. Die Verheerungen fordern aber auch stabilisierende Gegenkräfte heraus. Im Moment der Krise vermag die Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt zur Schau zu stellen und aus der Katastrophe Kapital zu schlagen. In der Schweiz ist dies maßgeblich im 19. Jahrhundert geschehen, als durch nationale Sammelaktionen die helvetische Solidarität “Einer für Alle und Alle für Einen” eingeübt wurde.

Aufbauend auf den Studien des Historikers und Klimaforschers Christian Pfister zeigt Utz auf, wie Katastrophenereignisse im Alpenraum zu nationalen Mobilisierungsereignissen, deren Initialzündung 1806 der Bergsturz von Goldau war, funktionalisiert wurden. Für die politische Ritualisierung von Katastrophen hatte die Schweiz einen besonderen Bedarf, denn anders als “die konkurrierenden europäischen Nationalstaaten” konnte sie “ihren inneren Zusammenhalt nicht in Kriegen gegen äußere Feinde” stärken (68). Als Kehrseite zur Hirtenidylle hat sich das von den Alpen drohende Unglück zum festen Bestandteil der schweizerischen Identität herausgebildet: “Je mehr Felsbrocken, Schneemassen oder Wasserfluten von den Bergen stürzen, desto mehr steigt das Selbstbewusstsein der Schweiz” (69).

Die für das schweizerische Nationalbewusstsein so gewichtige Dialektik zwischen Katastrophe und Idylle hat ihre normgebende Formulierung in Friedrich Schillers Schauspiel Wilhelm Tell (1804) erhalten. Utz argumentiert diesbezüglich gegen die einseitige Deutung, die in Anlehnung an Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung die geschichtsphilosophische Verwandlung von der “Anfangsidylle” zur “zweiten utopischen Idylle des Schlusses” ausschließlich am “Einbruch geschichtlicher Kräfte in das friedliche Hirtenvolk” festlegen will (33). Parallel zu den fremden Vögten droht ihm ebenfalls das katastrophische Hereinbrechen entfesselter Naturgewalten, welches gleich zu Beginn des Dramas im “dumpfen Krachen von den Bergen” angesprochen wird (33).

Von Seiten der mehrsprachigen Literaturen der Schweiz erweisen sich die Katastrophen als eine Herausforderung der ästhetischen Darstellung. Sie provozieren eine “Suche nach neuen Ausdrucksformen” und werden dadurch zum “produktiven, innovativen ‘Ereignis,’” das “in Gestalt und Text neu ‘vor Augen’” kommt (274). Erhellend ist Utz’ Argument, dass sich in der Wahrnehmung und Deutung real eingetroffener Katastrophen “kognitive Filter und emotionale Routinen” etabliert haben, die der distanzierte Blick der Literatur zu thematisieren und zu entlarven vermag (274f.). Gerade die literarischen Größen der Schweiz, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, dass den tradierten [End Page 127] Deutungsmustern von Katastrophen keine “moralisch intakte Position” zugesprochen werden kann (202). Der Sinn für eine absolute Gerechtigkeit ist abhanden gekommen. Entsprechend kommt es in ihren Werken zu Parodien der schweizerischen Katastrophenkultur. In seinem Alterswerk Durcheinandertal (1989) stellt Dürrenmatt die apokalyptische Logik der Gottesstrafe auf den Kopf, indem er die Auswüchse einer negativen Theodizee karikiert: “Nur wen Gott liebt, dem schickt er zuerst Lawinen oder Erdrutsche und dann die Geldspenden” (191). Frisch hingegen verweist in Biedermann und die Brandstifter (1958) auf die Komplizenschaft zwischen Brandstifter und Versicherungsvertreter. Insbesondere im “Nachspiel” zum Theaterstück verdeutlicht sich, dass Katastrophen nicht nur die Linie des Fortschritts punktieren, sondern diesen auch befördern. Die Strafwirkung wird ausgeklinkt. Das Alte wird nach dem katastrophischen Einschnitt durch das Neue ersetzt. Insoweit nützt es nichts, der Gesellschaft...

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