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Reviewed by:
  • Schiller und das Recht von Yvonne Nilges
  • Dirk Oschmann
Schiller und das Recht. Von Yvonne Nilges. Göttingen: Wallstein, 2012. 399 Seiten + 3 s/w Abbildungen. €44,90.

Kleist und das Recht, Kafka und das Recht—das sind Fragestellungen, die unmittelbar einleuchten. Im Falle Schillers ist das zweifellos nicht das Erste, woran man denkt, ja daran hat man bisher überhaupt noch kaum gedacht. Und doch fühlt man sich nach der Lektüre von Yvonne Nilges’ Buch, einer Heidelberger Habilitationsschrift, nicht nur über einen wichtigen Reflexions- und Darstellungsgegenstand Schillers belehrt, sondern neuerlich darüber, wie übergreifende wissenschaftsgeschichtliche Verschiebungen vermeintlich bestens bekannte Texte in neuem oder zumindest anderem Licht erscheinen lassen. Denn natürlich fügt sich diese Studie in die allgemeine Entwicklung des letzten Jahrzehnts ein, der Korrelation von Literatur und Recht besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sehr vereinzelt ist dieser Zusammenhang bereits im Blick auf Schiller erörtert worden. Mit dem anregenden Buch von Yvonne Nilges liegt dazu nun die erste systematische Untersuchung vor.

Wenn dabei von Recht die Rede ist, dann in einem umfassenden Sinne, weil neben der Kernfrage der Gerechtigkeit auch Fragen des Naturrechts, des positiven Rechts, des Menschenrechts, des Völkerrechts oder des Staatsrechts eine Rolle spielen. Auf diese Weise zeigt sich zugleich, in welchem Ausmaß Rechtsfragen hier zugleich eminent politische Fragen sind, ein Zugeständnis, zu dem sich die Verfasserin erst spät entschließt (266). Denn Schiller als politischen Denker zu verstehen, heißt, ihn gleichsam auf vertrautes Gelände zurückzuholen, woran ihr offenbar nicht gelegen ist, da sie Schiller in doppelter Perspektive als Denker des Rechts, vor allem aber als Vordenker moderner Rechtsstaatlichkeit ins Bewusstsein heben möchte, ein Bestreben, das sie mit großer Emphase und wiederholt formuliert.

Die Virulenz des Rechtsdiskurses bei Schiller wird in detailreichen Analysen vorgeführt, angefangen bei den dramentheoretischen Texten und der Erzählung “Verbrecher aus Infamie,” über die “Gesetzgebung des Lykurgus und Solon,” die Geschichtsschriften und die großen geschichtsphilosophisch-ästhetischen Entwürfe bis hin zum dramatischen Werk, insbesondere zu Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart, Wilhelm Tell und Demetrius. Durchgängig setzt die Verfasserin Schillers Werk zu den bedeutenden historischen und zeitgenössischen juristischen Diskussionen in Beziehung, wie sie beispielsweise von Christian Wolff, Mercier, Schlözer, Kant, Montesquieu, Pufendorf, Locke, Grotius oder Rousseau geführt worden sind. Seine breite Kenntnis dieser Kontexte verdankt Schiller einerseits—was bislang zugunsten seiner medizinisch-anthropologischen Ausbildung vernachlässigt worden ist—juristischen Studien an der Karlsschule in den Jahren 1774 und 1775 (38), andererseits aber auch seinen kontinuierlichen Bemühungen als juristischer Autodidakt (53). Das Rechtsinteresse Schillers steht jedenfalls außer Zweifel. Und am Ende der Lektüre ist der Leser überzeugt, dass der Dichter nicht nur ein Anthropologe ist, sondern ein wirklicher “Kriminalanthropologe” (10).

Die Erörterung der historischen und ästhetischen Schriften aus juristischer Perspektive bietet viel Bekanntes, da diese sich hauptsächlich politischen und philosophischen Gegenständen und Konstruktionen widmen, die im Rahmen der Aufklärungsforschung bereits umfassend beschrieben sind. Anders gesagt: Der Zugriff über Rechtsfragen kommt hier an seine Grenzen. [End Page 710]

Ungleich ertragreicher dagegen sind die Studien zum literarischen Œuvre, mit denen wertvolle Beiträge zum Verständnis der einzelnen Werke geleistet werden. Das gilt in erster Linie für den “Verbrecher aus Infamie,” sofern hier mit dem Namen des Protagonisten Christian Wolf wirklich Ernst gemacht wird, da sich konkret zeigen lässt, wie er an der im Vergeltungsrecht—dem ius talionis—gründenden Rechtsauffassung seines berühmten Namensvetters Christian Wolff scheitert, nicht zuletzt weil die Richter, wie es beim Psychologen Schiller heißt, in die Gesetze blicken statt in die “Gemütsverfassung des Beklagten.” Besonderes Gewicht erhält Schillers Position in dieser “Erzählung als Gerichtsverfahren” (79) dadurch, dass der Erzähler die Hauptfigur stets als “Unglücklichen” bezeichnet, nicht jedoch als “Bösewicht” (78) und damit einen gänzlichen anderen Wertungshorizont aufruft—den der Gerechtigkeit gegen das geltende Recht.

Ähnlich prominent sind die verschiedenen, politisch aufgeladenen Rechtsproblematiken auch in den herangezogenen Theaterstücken. Sie verbinden sich gleichzeitig mit staatstheoretischen Überlegungen, namentlich mit der Hauptfrage des Spätwerks nach politischer Legitimität, eine Frage, die sichtlich aus Schillers Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution erwächst. Während Wallenstein den “rechtlichen Tiefpunkt aller...

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