In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Textereignisse und Schlachtenbilder. Eine sebaldsche Poetik des Ereignisses von Christina Hünsche
  • Lars Koch
Textereignisse und Schlachtenbilder. Eine sebaldsche Poetik des Ereignisses. Von Christina Hünsche. Bielefeld: Aisthesis, 2012. 433 Seiten + 38 s/w Abbildungen. €38,00.

Christina Hünsches Studie, die auf ihrer 2010 an der Bauhaus-Universität Weimar eingereichten Dissertation basiert, eröffnet eine methodisch neue Perspektive auf das literarische Werk W.G. Sebalds. Orientiert an einem Ereignisbegriff, der von Gilles Deleuzes theoretischem Konzept der Schlacht inspiriert ist, zeichnet Hünsche nach, mit Hilfe welcher Text-Verfahren Sebald in seinem Œuvre die poetische Struktur historiographischer Aufschreibeprozesse reflektiert und wie sein Schreiben zugleich eine historiographische Funktion von Literatur konzipiert.

Zentral für Sebalds Poetik wie für Hünsches Analyse ist die doppelte Bedeutung des Begriffs Geschichte, der einerseits in einem historiographischen Kontext auf den Versuch einer faktenorientierten Rekonstruktion von Vergangenheit rekurriert, zugleich aber in dieser Rekonstruktion auf erzählerische und bildhaft-literarische Mittel angewiesen ist. Diese “Poetizität der Geschichte” (11), die Hünsche für Sebalds Texte als eine am linguistic turn geschulte Parallelführung von ereignishaftem Text und [End Page 732] Text-Ereignis beschreibt, hat nachhaltige Konsequenzen für zentrale geschichtswis-senschaftliche und literaturwissenschaftliche Termini wie “Zeugenschaft,” “Gedächtnis” und “Erinnerung, ” denen ein konstitutives Verfehlen des eigentlichen Ereignisses, auf das sie gerichtet sind, attestiert wird. So weist Hünsche nach, dass Sebalds Texte nicht primär—wie oftmals in der Forschung behauptet—im Modus von typischen Text-Bild-Kombinationen als quasi-mimetische Gedächtnis-Sammlungeneines Ich-Erzählers funktionieren, der in der Konzentration auf das historische Bildmaterial eine Aufwertung der Fakten gegenüber der Fiktion betreibt. Viel mehr sind Sebalds Bücher—allen voran Schwindel. Gefühle, Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn, Austerlitz und Campo Santo—durchsetzt mit historiographiekritischen narrativen Gesten, die die Konnektivität von historischem Signifikat und sprachlichem Signifikanten in Frage stellen, so eine konstitutive Nachträglichkeit des sogenannten historischen ‘Ereignisses’ vorführen und damit einen emphatischen Begriff historischer Wahrheit problematisieren. Die Sebald’sche Poetologie des Ereignisses, so Hünsche, realisiert sich in einem Text, der als linearitäts- und kausalitätsverweigernder Metatext unterfüttert ist von “Strategien der textuellen Selbstbefragung” (25), die rekursiv auf jene “textuellen Verfahren” (ebd.) angewendet werden, die ihn erst produziert haben.

Konkret führt Hünsche ihr Programm einer analytischen Rekonstruktion der Zwischenräume und Unbestimmtheitszonen des Ereignisses in den Texten W.G. Sebalds in Form von drei Großkapiteln durch. Das erste verhandelt unter der Überschrift “Erzählte Geschichte—Geschichtete Erzählung” die Funktion der in Sebalds Texte inkorporierten Bilder, die, so Hünsche, nicht als faktuale Bestandteile der Narration eingesetzt werden, sondern gerade im Gegenteil dazu dienen, als Störungsmoment den Konstruktionscharakter jeder historischen Rekonstruktion anzuzeigen. Das zweite Kapitel, “Paragonale Schlachtfelder,” widmet sich auf der Basis der Deleuze’schen Ereigniskonzeption und anhand von vier en détail analysierten Text-Bild-Konstellationen, die alle mit dem Motiv der Schlacht verbunden sind, der Frage, wie mit Sebalds Einsatz von Metanarrativität überhaupt Zeit literarisch erzählt werden kann. Kapitel drei, “Von der Schlacht Verstreute oder: Von der Unbehaustheit der Geschichte/n,” fokussiert die Performanz des historischen Zitats, deren textuelle Kenntlichmachung im Spannungsfeld von Intertextualität und Textautorität das Problem der Autorschaft als eine zentrale Sollbruchstelle von Sebalds Poetologie ausweist.

Zusammenfassend untersucht Hünsches Studie das Problem der Erzähl- und Darstellbarkeit von Geschichte in Form dreier methodischer Einsätze—Photo-Text-Beziehungen; Bild-Schrift-Beziehungen; Zitat-Performanz—, die das Deleuze’sche Konzept der Schlacht als “Doppel von Virtualität und Aktualisierung” (59) in unterschiedlichen Perspektiven als Subversion von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ausflaggen. Damit geht Hünsche einen neuen Weg, der die ausgetretenen, manchmal ein wenig biederen Pfade der (autobiographisch orientierten) Sebald-Forschung auf originelle Weise verlässt.

So verdienstvoll und die Sebald-Forschung erweiternd Hünsches Studie ist, so bleiben am Schluss doch zwei kleinere Wermutstropfen bestehen. Der eine resultiert aus einem sprachlichen Duktus der Studie, der die Lektüre manchmal recht mühselig werden lässt. Hier geht eine an der Weiterführung französischer Theorie (neben Deleuze auch Barthes und Ricoeur) orientierte Ausdrucksambition eine ungute Mischung ein mit dem für viele Dissertationen typischen Hang zur rhetorischen Verkomplizie-rung der Argumentationsführung...

pdf

Share