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Reviewed by:
  • Gertrud Kolmar: Dichten im Raum by Carola Daffner
  • Monika Shafi
Gertrud Kolmar: Dichten im Raum. Von Carola Daffner. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2012. 220 Seiten. €35,00.

Das Werk der deutsch-jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar (1897-1943) hat eine langwierige und schwierige Rezeptionsgeschichte, doch gibt es seit den 80er Jahren eine Wiederentdeckung dieser faszinierenden Autorin zu verzeichnen. Daffners Studie, die sich der Analyse von Raumkonstruktionen, vor allem der Überlagerung deutscher und jüdischer Raumdiskurse, in Kolmars Schaffen widmet, trägt in hervorragender Weise zum Forschungsstand bei, da sie differenziert und überzeugend Kolmars Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Topographien und Raumphantasien nachzeichnet. In sieben Kapiteln, die von einem kurzen Vorwort und Epilog umrahmt werden, analysiert Daffner die Rolle von Orten und Räumen in Kolmars Schaffen, die sie "als ein hochreflektiertes Verweben von Dichtung und kultureller Geographie" (9) bestimmt. Ausgehend von jüngsten Untersuchungen zum spatial turn sowie Gaston Bachelards einflussreicher Studie Poetik des Raums untersucht Daffner anhand ausgewählter Gedichte und Prosa, wie diese Topographien zusätzlich "kollektive Identitätsbildungen und geschlechtsspezifische Machtverhältnisse" (14) reflektieren. Ihre Interpretationen bestechen durch Genauigkeit und umfassende Kontextualisierungen, in denen Daffner auch weitverzweigte intertextuelle Referenzen aufdeckt. In [End Page 349] ihrer Gesamtheit zeichnen diese Analysen die Suche eines weiblichen lyrischen Ichs nach Orten und Genealogien nach, da die bisher maßgeblichen kulturellen Räume und Traditionen unter der Gewalt des Nationalsozialimus zusehends zerbrachen.

Auf den einleitenden Überblick im ersten Kapitel folgt im zweiten Kapitel eine präzise und gleichzeitig weitausgreifende Interpretation der Gedichte "Großmutter" und "Ein Tagebuch." Ausgehend von Kolmars eigenen Kindheitserfahrungen verfolgt Daffner, wie Kolmar in diesen beiden Gedichten kulturelle Traditionen und Orte— seien es jene des literarischen Kanons oder jene der kolonialen Expansion—als illusionär aufdeckt. Das bildungsbürgerliche Erbe und kulturelle Gedächtnis, mit dem die Autorin aufwuchs, ist dem Ansturm des Nationalsozialismus nicht gewachsen. Diesen Bruch genau erkennend, wandte sich Kolmar zusehends anderen Räumen zu, besonders den "verborgenen Schnittstellen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Diskursen im urbanen Raum Berlins" (18). Im dritten Kapitel widmet sich Daffner solchen Schnittstellen im Gedicht "Die Fremde," in dem sie Spuren von Büchner und Rilke nachweist, sowie in Kolmars Berlin-Roman Eine jüdische Muttter, dessen Topographien die deutsch-jüdische Symbiose als illusionär entlarven. Daffner bietet eine eindrucksvolle Analyse der höchst problematischem Mutter-Kind Beziehung des Romans, da sie Marthas absoluten Mütterlichkeitsanspruch nicht psychologisch interpretiert, sondern ihre Haltung zu der Tochter "als sakrale, nicht sexuelle Weiblichkeit, welche das jüdische Erbe als mütterliche und nicht als patriarchale Genealogie" (68) auffasst.

Von den lokalen, vertrauten Räumen der Kindheit und Berlins wendet sich Daffner in den folgenden vier Kapiteln den weitausgreifenden, exotischen Phantasiewelten zu, wie sie Kolmar beispielsweise in dem frühen Gedicht "Die Aztekin" thematisiert. Daffner zufolge zeigt dieser Text eine ambivalente Verbindung von kolonialen Phantasien und Geschlechtskonstruktionen, in der sich Anpassung, Kritik und Widerstand überlagern. Spätere Gedichte wie "Die Unerschlossene," "Mädchen" und "Die Mergui-Inseln," welche Daffner im 5. Kapitel behandelt, negieren einerseits kulturelle Traditionen und versuchen andererseits imaginäre Orte der weiblichen poetischen Ichs zu entwickeln. In sechsten Kapitel widmet sich Daffner Kolmars Hinwendung zu einem imaginären Orient, welche die Dichterin in solch berühmten Gedichten wie "Asien" und "Der Ural" aufgreift. Daffner geht hier sehr differenziert auf Kolmars Auseinandersetzung mit zionistischen Topographien ein, welchen die Dichterin Daffner zufolge kritisch gegenüberstand. Das in den Gedichten artikulierte Thema der Sprachlosigkeit wird auch in anderen Texten sichtbar, die sich explizit mit der jüdischen Tradition auseinandersetzen und denen sich Daffner im abschließenden Kapitel zuwendet. Gedichte wie "Die Jüdin," "Türme" sowie der kurze Dramentext "Nacht: dramatische Legende" dokumentieren Kolmars Suche nach einem weiblichen poetischen Zion (201). Dieser Schöpfungsraum markiert sowohl die Brüchigkeit kanonischer Überlieferungen als auch, so Daffners überzeugende These, die Suche nach einer Zukunftsdichtung, die Kolmar im Hebräischen glaubte finden zu können.

Ein Index wäre wünschenswert gewesen, doch vermindert dies nicht den Wert dieser sorgfältigen und überzeugenden Studie. [End Page 350]

Monika Shafi
University of Delaware
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