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  • Postkolonialismus und Kanon by Herbert Uerlings, Iulia-Karin Patrut
  • Stefan Hermes
Postkolonialismus und Kanon. Herausgegeben von Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut. Bielefeld: Aisthesis, 2012. 366 Seiten + 7 farbige und 4 s/w Abbildungen. €34,80.

Postkolonialismus und Kanon—der Titel des zu besprechenden Bandes ist ebenso knapp wie offen gehalten, und tatsächlich diskutieren die zwölf darin versammelten Aufsätze recht unterschiedliche Problemstellungen. Es sei jedoch vorweggenommen, dass sie sich im Wesentlichen komplementär zueinander verhalten, sodass ihre Diversität weit eher als Vorzug denn als Manko zu beurteilen ist: Insgesamt führen sie plastisch vor Augen, weshalb die Bezugnahme auf Elemente postkolonialer Theoriebildung für die germanistische Literaturwissenschaft von erheblichem Nutzen sein kann.

Während die Einleitung des Herausgeberduos das Thema des Bandes bündig skizziert und vor allem detaillierte Referate der einzelnen Beiträge präsentiert, bietet der anschließende Aufsatz von Herbert Uerlings eine profunde Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar “Postkolonialismus und Kanon” (39). Moniert wird zunächst der noch immer relativ niedrige Kanonisierungsgrad der postkolonialen Studien innerhalb der Germanistik; im Zentrum steht jedoch die Frage, wie sich die ‘Kanonwürdigkeit’ als postkolonial zu klassifizierender literarischer Werke bemessen lässt. In diesem Zusammenhang erachtet es Uerlings für unabdingbar, nicht allein inhaltliche Aspekte zu berücksichtigen, sondern insbesondere zu ermitteln, ob sich das postkoloniale Potential eines Textes als genuin “poetisches Potential entfaltet” (53). Welche Schreibverfahren dabei von zentraler Bedeutung sind, illustriert er an einer Fülle von Beispielen, wodurch seine Argumentation eine beträchtliche Überzeugungskraft entwickelt.

Im Gegensatz zu Uerlings profiliert Monika Albrecht weniger die Stärken als vielmehr gewisse Schwächen des postkolonialen Paradigmas, die dessen Kanonisie-rung abträglich seien. Dies betreffe speziell einen häufig zu beobachtenden “doppelten Standard” (75) im Bereich ethischer Wertungen: Albrecht zufolge werden essentialistische Praktiken des ‘Othering’ oft nur dann kritisiert, wenn Vertreter ‘des Westens’ sich ihrer bedienen, und kurzerhand exkulpiert, sobald von anderer Seite darauf zurückgegriffen wird. In Analogie dazu sei eine mehr als zweifelhafte “Regelpoetik” (86) entstanden, die es “weißen Mainstream-Schriftstellern” prinzipiell versagen wolle, “sich die Stimmen von ethnischen Minderheiten ‘anzueignen’” (89f.). Ihre Einwände gegen derlei Dogmen trägt Albrecht mit Verve, aber nie unnötig polemisch vor, sodass die Lektüre ihres Aufsatzes selbst dann äußerst anregend ist, wenn man der Verfasserin nicht in jedem Punkt beipflichtet.

Gleichermaßen instruktiv fallen die Beiträge von Norbert Mecklenburg und Sabine Wilke aus, die hochgradig kanonisierte ästhetische Modelle im Rekurs auf postkoloniale Gedankenfiguren neu in den Blick nehmen. So würdigt Mecklenburg die bleibenden Verdienste von Goethes ‘Weltliteratur’-Konzept, doch weist er auch darauf hin, dass es die Gewaltgeschichte des Kolonialismus vollständig ausblendet. Daher sei es ratsam, einigen in mancher Hinsicht verwandten, aber dezidiert herr-schaftskritischen Überlegungen Herders künftig größere Aufmerksamkeit zu schenken: Dass von dort aus sogar Aufschlüsse über die Kanondebatten der Postmoderne zu gewinnen sind, vermag Mecklenburg triftig zu zeigen. Demgegenüber befasst sich [End Page 125] Wilkes intermedial und komparatistisch ausgerichteter Aufsatz mit der traditions-reichen Kategorie des Erhabenen, die als integraler Bestandteil kolonialer Ästhetik bestimmt wird. Allerdings seien Szenen des Erhabenen nicht zwangsläufig solche der Bemächtigung, und mithin demonstriert Wilke, dass dessen künstlerische Evokation bisweilen durchaus dazu dient, der begrifflichen Unterwerfung des Anderen etwas entgegenzusetzen.

Bei einigen weiteren Studien des Bandes handelt es sich um postkolonial informierte Relektüren von Werken, die gewöhnlich zum Kanon der Germanistik gezählt werden. Gabriele Dürbeck etwa untersucht Wilhelm Raabes Stopfkuchen, dessen jüngere Rezeptionsgeschichte sie konzise rekapituliert, um sodann seine unauflösliche Ambivalenz herauszupräparieren: Während der Roman das koloniale Wertesystem in vielen Passagen konterkariere, affirmiere er es andernorts eben doch. Andrea Geier wiederum beschäftigt sich mit Gustav Freytags Bestseller Soll und Haben, den sie trotz seines penetranten Antisemitismus nicht einfach dekanonisiert wissen will. Stattdessen führt sie vor, wie fruchtbar es sein kann, Freytags narrative Alteritätskonstruktionen in postkolonialer Perspektive zu analysieren. Dabei exponiert sie neben der antisemitischen auch die antipolnische Dimension des Romans—womit Geier ein wichtiges Forschungsfeld betritt, das dann Iulia-Karin Patrut in der Folge eingehender bearbeitet. So zeichnet sie eingangs jene deutschsprachigen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts nach, in denen das östliche Europa...

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