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  • Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von den Rhapsoden bis zum Hörbuch
  • Justus Fetscher
Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von den Rhapsoden bis zum Hörbuch. Von Severin Perrig. Bielefeld: Aisthesis, 2009. 158 Seiten. €17,80.

Ansprechend und unsystematisch tritt dieses Buch auf. Es ist reich an markanten Zitaten und charakteristischen Anekdoten, theoretisch streng hingegen nicht. Eine Geschichte des Vorlesens, die sein Titel verspricht, verweigert der Band, um stattdessen mit einem munter umspringenden Kaleidoskop von Aspekten, Eindrücken, Positionen und Namen aufzuwarten. Das verleiht diesem Buch einen Jean-Paul'schen Zug. Unbekümmert hüpft es in einer einzigen Fußnote von Else Lasker-Schüler über Velemir Chlebnikov und Heinrich Zschokke zu Martin Suter und Jean-Jacques Rousseau oder auch von Apollonios Rhodios über Justus Lipsius zu Roland Barthes, also vom 3. vorchristlichen über das 16. ins 20. Jahrhundert (siehe 110 Anm. 19; 121 Anm. 3). Unermüdlich kumuliert es "weitere Beispiele" und schließt an das eben Gesagte mit einem lockeren "Oder aber" respective einem "Aber auch sonst" an (siehe 110 Anm. 15; bzw. 43). Mimetisch zur Wortbedeutungsgeschichte eines seiner Gegenstände bleibt die Komposition des Buches rhapsodisch.

Der Autor nennt sein Unternehmen eine Reihe von "essayistische[n] Texte[n] auf einem kulturhistorischem Rundgang" (10). Jedem dieser neun Texte ist ein literarisches Zeugnis vorangestellt, ein Motto—wenn denn auch längere Einblendungen wie etwa eine siebenseitige Hesse'sche Erzählung, die hier in extenso abgedruckt ist, [End Page 643] als Motti gelten können. Der Bezug der Argumentationen auf die Motti bleibt meistenteils allgemein, sodass Dimensionen und Potentiale, die zumal in dem ausführlichen Abschnitt aus Dostojevskijs Verbrechen und Strafe impliziert sind, nicht mehr recht zur Sprache kommen. Drei Motti Severin Perrigs finden sich auch mit fast identischen Textgrenzen in Reinhard Tgahrts dreibändiger Dokumentation Dichter lesen (Marbach 1984-1995), auf die sich dieser Band wiederholt beruft.

Die Hauptetappen der Vorlesens-Geschichte wird sich der Leser aus den Exkursen und Mäandern des Buches zusammenlesen. Im Zeichen der Rhetorik dominierten von der Antike bis zur Frühen Neuzeit Didaktiken und Praktiken des lauten Lesens. Zu unterscheiden ist hier selbstverständlich danach, ob heilige oder profane, populäre oder gelehrte, exoterische oder an einen Kreis von Vertrauten adressierten Schriften zum Vortrag kamen. Die Dominanz der stillen Lektüre datiert Perrig, etwas naheliegend-pauschal, auf die Zeit um 1800 (siehe 15). Doch schon um 1840 ist die öffentliche Deklamation, folgt man (mit Perrig) Karl-Heinz Götterts Geschichte der Stimme (München 1998), in Europa eine geradezu epidemische Mode (siehe 22 Anm. 10). Zug um Zug bildet sich nun eine Infrastruktur der Vorlese-Veranstaltungen heraus. Orientiert am Virtuosentum, das sich in Konzertsälen und Opernhäusern zelebriert findet, schickt dieser Betrieb Vorlesende auf Tournee (siehe etwa 90). Charles Dickens ist ein solcher Champion der Absatzsteigerung durch Lesereisen. Der heutigen westlichen Welt wird beides attestiert bzw. prognostiziert: eine veritable neue "'Kultur der Mündlichkeit'" (119; so Jens Jessen 2003) und das baldige Aussterben der öffentlichen Lesung. Wer diese Befunde miteinander vereinbar machen möchte, wird nach dem funktions-und medienkulturellen Wandel der Oralität und ihrer Öffentlichkeit fragen. Severin Perrigs Buch gibt diesen Aspekt zu bedenken, ohne ihn pünktlich ab-zuhandeln.

Lautes Vorlesen hat seine Schlüsselfunktion offenbar im Register der memorialen Einprägung vor den Ohren der Analphabeten. Perrig'sche Beispiele dafür sind der militärische Zählappell, das Ablesen von der Grabsäule im Beisein der Trauergemeinde und der Vortrag Paulinischer Briefe an die damit adressierte Gemeinde (siehe 54-56). Es verkündet Botschaften kultisch-autoritärer Verfügung im religiösen, politischen und juridischen Sinn. Man darf es wohl eine Diskurs-Implementierungs-Technik nennen. Seine kindheitliche Zeitort-Platzierung, paradigmatisch in der Praxis des Märchen-Vorlesens angesiedelt, könnte verraten, dass es zudem Aufgaben des er-weiterten Spracherwerbs verbindet mit der Übermittlung kultureller Basisnarrative. In einem seiner stärksten Textbeispiele zitiert Perrig einen Abschnitt aus Prousts Recherche, in dem der Ich-Erzähler der vorlesenden Stimme seiner Mutter nachrühmt, sie habe einen längst publizierten Text (George Sands) so intoniert, dass dessen Vergangenheit Resonanz in der Gegenwart erhalten habe—eine melancholische Fusion der...

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