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Reviewed by:
  • Goethe's Modernisms
  • Bernd Hamacher
Goethe's Modernisms. By Astrida Orle Tantillo. New York: Continuum, 2010. x + 198 pages. $27.95.

Aus Sicht der deutschen Goetheforschung beginnt Astrida Tantillos Buch mit einem Paukenschlag: "This book argues that by studying the works of Johann Wolfgang von Goethe [ . . . ], we can gain insights into the foundational principles of American society and its shortcomings" (1). Bezüge zwischen Goethes Werken und der Kultur der Moderne wurden in den vergangenen Jahren vor allem in Bezug auf Faust nachgewiesen (vgl. Karl Eibl, Das monumentale Ich, 2000; Michael Jaeger, Fausts Kolonie, 2004)—doch was hat Goethe mit der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft zu tun? Geht es um ein bislang unterbelichtetes Kapitel der Rezeptionsgeschichte? Dass der Rezensent dieses Buch auf Deutsch bespricht, ist—conclusio qua praefatio— Ausdruck seiner Überzeugung, dass es nicht nur um 'American affairs' geht, sondern Tantillos Buch unbedingt auch von der deutschen Goethe-Forschung zur Kenntnis genommen werden sollte. [End Page 666]

Der Ansatz scheint zunächst konventionell: Mit Goethes "dynamic philosophy" werden seine umfassenden Ausbalancierungen von Gegensätzen, besser: Polaritäten beschrieben, die alle Festlegungen als einseitig erweisen. Mit dem Blick auf die Prozesse der Modernisierung bedeutet das, dass jeder Gewinn oder Fortschritt an einer Stelle Verlust und Rückschritt an anderer Stelle nach sich zieht: ein Dilemma indes, das—Tantillo zufolge—keineswegs zu Fatalismus führen soll und auch nicht postmoderner Beliebigkeit zuarbeite, sondern dessen Erkenntnis gegen Absolutismen jeder Couleur immunisiere und dazu anhalte, alle Probleme der Moderne aus vielen verschiedenen Perspektiven zu analysieren, um die jeweils bestmögliche Entscheidung treffen zu können. Wenn die Balance gegensätzlicher Bestrebungen als Ziel genannt wird (vgl. 7), mündet dies nicht in die weltanschaulichen Harmonisierungen einer allzu erbaulichen älteren Goethe-Rezeption. Auch die Zuspitzung konträrer Positionen zwischen "conservatives" und "liberals" (10 f.) dient der rhetorischen Schärfung der Argumentation im unmittelbaren Blick auf die gegenwärtige politische Situation in den USA, verdeckt aber nicht ihre problemgeschichtliche Differenzierung.

Goethes Modernismen werden in den drei Kapiteln des Buches im Hinblick auf drei Werke entfaltet: Faust, Die Leiden des jungen Werthers und Wilhelm Meisters Lehr-und Wanderjahre. Der Ansatz zu Faust ist dabei auf den ersten Blick am wenigsten überraschend, denn dass (vor allem im zweiten Teil) die Problematik humanen Fortschritts auf dem Hintergrund moderner Wissenschaft und Technologie sowie der kapitalistischen Gesellschaftsordnung dargestellt wird, ist seit längerer Zeit Gemeingut der Forschung. Tantillo gewinnt dieser Konstellation jedoch einen neuen Aspekt ab: Gerade Fausts Himmelfahrt und Erlösung seien tragisch, denn dadurch würde er der Möglichkeit aktiven Strebens beraubt und zu Passivität und ewigem Stillstand verdammt. Faust verliere daher die Wette, obwohl der Teufel seine Seele nicht gewinne.

Ob die Prämisse des Werther-Kapitels ähnlich konsensfähig ist, könnte bezweifelt werden, denn sie lautet, dass der Roman meist als "a valorization of democracy, emotions, and a heightened sense of individualism" gelesen werde (69). Diese affirmative Lesart verkennt zum einen die Differenzsignale, die bereits in der Erstfassung durch die Figur des Herausgebers eingebaut, in der zeitgenössischen Rezeption allerdings kaum bemerkt und von Goethe daher schon bei der zweiten rechtmäßigen Ausgabe durch die Voranstellung von Titelstrophen vor beide Teile des Rom ans verstärkt wurden. Zum anderen kann die individualistische Ideologie des Protagonisten wohl kaum als demokratisch bezeichnet werden. Gleichwohl trifft Tantillo auch in diesem Kapitel einen aktuellen Nerv, wenn sie eine aus dem Pietismus abgeleitete individualistische Institutionenfeindschaft, die zu einem Verlust von Traditionen und Hierarchien führt, für Werthers Entwurzelung und damit letztlich für seinen Selbstmord verantwortlich macht.

Als Erbe von Werthers Problematik sieht Tantillo den amerikanischen Evangelikalismus. Um—'linke' wie 'rechte'—Fehlentwicklungen diesmal nicht religiöser, sondern pädagogischer Art geht es auch in ihrer problemgeschichtlichen Wilhelm Meister- Aktualisierung: "By analyzing both novels against the backdrop of current educational disputes, I argue that while they anticipate many of our pedagogical approaches, we have also adopted those that they most warn against and have rejected those they present as the most central to human and national flourishing" (121). Auch hier stellen sich Einwände im Detail, was etwa die nahezu uneingeschränkt positive [End Page 667] Bewertung der Turmgesellschaft betrifft. Deren Ideologie folgt etwa Tantillos Einsch...

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