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  • Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik—Rezeption und Wirkung
  • Florian Vaßen
Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik—Rezeption und Wirkung. Von Janine Ludwig. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009. 373 Seiten + 1 CD-Rom. €59,70.

Jetzt ist es endlich so weit—und das ist gut so: Auch die Rezeptionsforschung hat nun Heiner Müller entdeckt. Ludwig untersucht in ihrer 2008 an der Humboldt Universität zu Berlin vorgelegten Dissertation—allerdings eingegrenzt auf die Bundesrepublik—die frühe Rezeption von Müllers Theatertexten (Kap. I) und die der 80er Jahre bis zur Vereinigung (das relativ kurze Kap. III), aber auch seine Bezüge "zum westlichen Marxismus" und zur "Neuen Linken" (Kap. II).

Sehr verdienstvoll ist die empirische Darstellung und Analyse der Rezeption Heiner Müllers in Literaturlexika (durchweg positiv als Nachfolger Brechts), in Schulbüchern (auffällig wenige Fundstellen) und in Theatern, sprich anhand der Inszenierung; hierbei ist vor allem "die bisher vollständigste, je veröffentlichte Inszenierungstabelle" (12) auf der beigefügten CD-Rom hervorzuheben sowie deren statistische Aufbereitung und Interpretation. Interessant ist dabei u.a. die Häufigkeit der Inszenierungen einzelner Theatertexte—Quartett liegt natürlich an der Spitze, wird aber dicht gefolgt von der Hamletmaschine, dem Auftrag und Philoktet—sowie die Feststellung, dass es keineswegs einen signifikanten Rückgang von Müller-Inszenierungen nach 1989 gab, diese aber weniger an den großen Theatern stattfanden. Schaubilder, Statistiken und Kommentare liefern vielfältiges, sehr nützliches Material. Auch die spezielle Auswertung der Theaterkritiken und Artikel zu Müller in Theater heute, der führenden Theaterzeitschrift in der Bundesrepublik (Kap. I.4), belegt, dass Müller einer der wichtigsten Dramatiker der Bundesrepublik war (und ist).

In den beiden folgenden sehr umfangreichen Kapiteln (II.1 und II.2, mehr als 200 Seiten) wechselt das Erkenntnisinteresse der Autorin und damit auch die Perspektive der Untersuchung: Jetzt stehen "inhaltliche Analysen" (93) der Texte von Heiner Müller im Zentrum der Untersuchung unter dem Gesichtspunkt von "Müllers Bedeutung in der Bundesrepublik als politischer Autor," speziell seine "Bezüge [ … ] zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule" (95) und hier vor allem zu [End Page 140] Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (Kap. II.1). Zu Recht weist Ludwig auf "frappante Parallelen" insbesondere in der "Haltung zur Utopie" hin (110) und gibt mit Blick auf Odysseus eine detaillierte Interpretation von Müllers Philoktet, die jedoch weitgehend in der Präsentation der wissenschaftlichen Sekundärliteratur in Monographien, Sammelbänden, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln besteht; ähnlich verfährt Ludwig im Folgenden in Bezug auf Herakles 5, Gundling und Verkommenes Ufer. Sichtbar—und mit vielen Beispielen belegt—wird dabei sowohl Müllers als auch Adornos und Horkheimers "Grundskepsis [ … ] gegenüber der Aufklärung" (191) wie auch Müllers—über die Frankfurter Schule hinausgehende—Orientierung an "Widerstandspotenziale[n]" (195) wie dem Körper, dem Wahnsinn, dem Bösen, was vor allem auf Walter Benjamin verweist, dem Müller zweifelsohne grundsätzlich näher stand als der Frankfurter Schule, ohne dass allerdings dessen große Relevanz im "westlichen Marxismus" eingehender erörtert würde.

Auch das Kapitel über "Müller und die Neue Linke" (Kap. II.2, 199–320) zeigt viele Verflechtungen und Parallelen auf, etwa in der Frage der Gewalt und des Terrorismus (Müllers Beschäftigung mit Brechts Fatzer und der RAF), lässt aber grundlegende Differenzen, wie etwa Müllers Interesse an Ernst Jünger und Carl Schmitt oder die Distanz großer Teile der Neuen Linken zum Anarchismus sowie deren ambivalente Haltung zur Frauenbewegung, weitgehend außer Acht. Dementsprechend betont auch Ludwig, dass "Müller selbst sich [ … ] in öffentlichen Äußerungen selten in Beziehung" zur Neuen Linken "gesetzt" hat (319). Sehr ausführlich wird in diesem Kontext auch mit Hilfe von Material aus dem Heiner-Müller-Archiv vor allem Die Hamletmaschine—erneut mit Blick auf die RAF—interpretiert, insbesondere die Frauengestalten Ophelia, Elektra sowie zusätzlich Medea, agierend zwischen sexueller Opferrolle, Wahnsinn, Verweigerung und Rache. Ebenfalls in der Darstellung der "anarchische(n) Kraft des Kriminellen" (Manson Family in Die Hamletmaschine, 305–316) und in der Untersuchung von Der Auftrag bietet Ludwig, besonders in Bezug auf C...

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