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  • Differenzen? Interkulturelle Probleme und Möglichkeiten in Sprache, Literatur und Kultur
  • Franz R. Kempf
Differenzen? Interkulturelle Probleme und Möglichkeiten in Sprache, Literatur und Kultur. Herausgegeben von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Ulrich Müller, Siegrid Schmidt und Klaus Zelewitz. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009. 748 Seiten. €97,50.

Beim vorliegenden Band handelt es sich um 46 Vorträge, die 2002 an der Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik in Salzburg gehalten wurden. Dabei kommen Germanisten, Kulturwissenschaftler, Linguisten, Übersetzer und DaF-Pädagogen von Ägypten bis Ungarn zu Wort. Nordamerika glänzt durch Abwesenheit, das größte Kontingent stellt die Türkei mit 16 Beiträgen.

Theoretisch orientiert sich der Band an der seit Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Wende der Germanistik von einer nationalphilologischen Literaturwissenschaft zu einer transnationalen, interdisziplinären, vergleichenden Kulturwissenschaft. Rekapituliert wird die Geschichte dieser Wende von Karl Esselborn in seinem Essay "Aktuelle Ansätze zu einer Germanistik als transnationaler Kulturwissenschaft und die Vermittlung deutschsprachiger als fremdkultureller Literatur"—notabene der einzige nennenswert theoretische Aufsatz der ganzen Sammlung. Esselborn verweist auf den Einfluß der "Cultural Studies" und konstatiert den Vorrang der Ethnik gegenüber der Ästhetik. Am Ende aber plädiert er für eine Hermeneutik der "Kulturalität des Literarischen" und der "Literarizität des Kulturellen" (292).

In der analytischen Praxis ist es allerdings um diese, wenn man so will, hybride Hermeneutik schlecht bestellt. Das Beste, was der Band zu bieten hat, sind eine Handvoll literaturkritischer Essays, wie z. B. Herbert Uerlings Untersuchung der Medea-Figur bei Christa Wolf und Heiner Müller, Arturo Larcatis Ausführungen zum "Nomadentum" bei Bachmann und Celan oder Daria und Martin Hainz' Übersetzungskritik früher, rumänisch geschriebener Celan-Gedichte. Auf eindringliche Weise problematisiert Manfred Durzak die ethnische und ästhetische Vermittlung von Fremderfahrung anhand zweier Kurzgeschichten, Jakob Arjounis "Familie Rudolf tut wohl" und Keto von Waberers "Der Untermieter." Zu den kulturwissenschaftlich überzeugenden Aufsätzen gehören Monika Cseresznyaks Vergleich der Pandora-Figur bei Goethe und John Flaxman oder Dietrich Ralls Untersuchung zur deutschsprachigen Reiseliteratur über Mexiko.

Problematisch wird die kulturwissenschaftliche Methode, wenn sie Vorurteile zementiert, wie z. B. in Vridhagiri Ganeshans Auflistung von Unterschieden zwischen der deutschen und der indischen Weltanschauung, oder wenn sie literarische Texte "nur als anthropologische Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen" liest (441), wie z. B. in Özlem Firtinas "Multikulturelle Erscheinungen bei Kafka: Deutsch-tschechisch-jüdische Elemente in 'Brief an den Vater'." Zweifelsohne sind die im Titel angedeuteten Elemente vorhanden, aber sie sind nicht wörtlich zu nehmende Kulturbausteine, sondern rhetorische Versatzstücke von Kafkas Ästhetik, mit der er die Gültigkeit und damit auch die Gleichwertigkeit dieser "multikulturellen Erscheinungen" hinterfragt. Kafkas dichterisches Selbstverständnis—"Ich bin Literatur, ich kann nichts anderes sein"—deckt die reduktiven Gefahren der kulturwissenschaftlichen Methode unmissverständlich auf. Ähnliches gilt für Nilüfer Kuruyazicis Essay "Religiöse Wertvorstellungen in literarischen Texten und ihre Rolle bei interkulturellen Begegnungen (untersucht am Beispiel von E. Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei)." Zwar vermerkt Kuruyazici Özdamars Ästhetik der "komischen [End Page 108] Verfremdung" (436), aber dass es eben diese Ästhetik ist, die die hier praktizierte kulturessentielle Lesart ad absurdum führt, entgeht der Autorin. Wenn sie am Ende dem Leser nahelegt, Özdamars Roman als Aufruf zur Völkerverständigung zu lesen, dann ist damit die Instrumentalisierung der Literatur durch die Kulturwissenschaft perfekt.

Kuruyazici ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Immer wieder werden sowohl postkoloniale Universalismen wie "Gleichwertigkeit," "Relativität," "Hybridität" und "Toleranz" als auch postkoloniale Theoretiker (z. B. Homi Bhabha, Kristeva, Todorov) ins Feld geführt, allerdings nur beschwörend, nicht hinterfragend. Gerade die Non-chalance, mit der dies hier geschieht, wirft eine Reihe von Fragen auf, mit der sich eine kritische Hermeneutik der Alterität auseinandersetzen müßte, darunter: Gibt es eine objektive Erkenntnis ohne Werturteil? Wie wird der Kulturschock zum Erkenntnisschock? Ist eine hybride Identität nicht eine contradictio in adjecto? Warum führt, auch in radikalen Theorien, kein Weg am eigenen Ich, oder wie Goethe es nannte, am Daimon, vorbei? Wie wird aus dem Vorurteil ein im kantischen Sinne vorläufiges Urteilen? Und schließlich, als pièce de résistance einer solchen Hermeneutik, führt das "Kulturals-Text" Postulat (291) nicht in...

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