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  • Der Unberührbare. Gottfried Benn—Dichter im 20. Jahrhundert
  • Wolfgang Emmerich
Der Unberührbare. Gottfried Benn—Dichter im 20. Jahrhundert. Von Christian Schärf. Bielefeld: Aisthesis, 2006. 415 Seiten. €27,50.

2006 war ein doppeltes Jubiläumsjahr für alle, die die Literatur der Moderne schätzen: der 50. Todestag von Bertolt Brecht und Gottfried Benn, bei Benn noch dazu das Jahr seines 120. Geburtstages. Zu Brecht erschienen bemerkenswerter Weise kaum [End Page 440] wichtige neue Bücher, zu Benn dagegen gleich mehrere, allen voran Joachim Dycks in der Tendenz apologetisches Buch Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949 und Helmut Lethens nicht von allen gepriesenes Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Jüngst ist noch der schöne Bildband Gottfried Benn. Sein Leben und Werk in Bildern und Texten von Holger Hof dazugekommen, eine wahre Fundgrube bisher unbekannter Fotos und anderer biografischer Details zu Benn.

Von der breiteren Öffentlichkeit kaum bemerkt, kam zur gleichen Zeit ein im strengen Sinne literaturanalytisches und zugleich biografisch tief schürfendes Werk heraus, das, bei Lichte besehen, auch das ertragreichste aller hier genannten Bücher ist: Schärfs Studie Der Unberührbare. Am Anfang steht die zutreffende Diagnose, dass die bisherige, immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert umfassende Benn-Forschung weitgehend im Bann der von Benn selbst suggestiv vorgegebenen Begriffe verharrt habe—Begriffe, die sich vor allem in des Autors autobiografischen Schriften von "Epilog und lyrisches Ich" bis "Doppelleben" finden. Bereits ein Jahrzehnt nach Benns Tod waren, so Schärfs Bilanz, "die beiden Seiten des Bennschen Dichterbilds, die Selbstdeutung des Dichters und die Auslegung dieser Selbstdeutung durch seine Interpreten, zu einem Gesamttableau zusammengewachsen" (7). Namen, die diese Behauptung belegen? Schärf selbst nennt keine, aber die Annahme liegt nahe, dass er u.a. Dieter Wellershoff, Edgar Lohner, Hans Egon Holthusen, Harald Steinhagen und seinen eigenen Lehrer Bruno Hillebrand meint.

Das Zauberwort, mit dem Schärf seinen eigenen Ansatz pointiert, heißt "Bioautografie." Es will sagen, dass das Leben eines Individuums sein Schreiben generiere (in der Sache natürlich nichts Neues), und in der Umkehrung: dass das schreibende Individuum nachträglich aus diesem Vorgang eine plausible "Sinngeschichte" webe, zumal in seinen autobiografischen Texten. So—dies eine der Hauptthesen—habe Benn sich von Anfang an als Paria, als "Unberührbaren" stilisiert (wofür es in seiner Kindheit und Jugend als armer Pfarrerssohn auf ostelbischem Terrain plausible Anhaltspunkte gibt, wie schon Jürgen Schröder detailliert gezeigt hat). Desto entschiedener habe er sich sodann als Dichter aus eigenem Recht setzen können, jenseits der 'Berührungen' durch die je gegebenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, einschließlich der Kollegen Schriftsteller um ihn herum. Als "Alltagssubjekt" sei Benn gleichsam durch die Zeitläufte hindurch geglitten, während sein vom "Alltags-Ich" abgesondertes "Dichter-Ich" den "exklusiven Raum" der (immer noch) metaphysischen Kunstschöpfung besetzt gehalten habe (388). Dieser Perspektive folgend, durchwandert Schärf alle "Phasen und Figuren," "Situationen und Problemstellungen" Benns als "Varianten der bioautografischen Selbstsetzung des Dichters" (17), wobei der Autor dem Dichter zu Recht unterstellt, dass ihm immer bewusst gewesen sei, noch "im radikalen Bruch" mit der metaphysischen Tradition des Abendlands dieselbe gleichwohl fortzusetzen—eben, paradoxerweise, als Bruch (14).

Freilich, in seinem letzten Kapitel muss Schärf einräumen, dass der Dichter in seinen späten Jahren keinen Sinn mehr darin sehen konnte, "diese Absolutheiten weiter aufrechtzuerhalten" (387). Aus seinem "Bekenntnis zur radikalen Reduktion der existenziellen Erwartungen" erwächst Benns radikal entspannte Parlandolyrik des gleichwertigen Nebeneinanders disparater Wirklichkeitspartikel, wie Schärf an den beiden späten autobiografischen Gedichten "1886" und "Teils-teils" sehr schön zeigt. Danach lautet sein Fazit: "Der kalte Blick des Artisten verschmilzt mit einer [End Page 441] Gefühlswärme, die die notorisch gestellte Frage nach dem Menschen endlich primär zur Frage nach den Menschen werden lässt" (396, Hervorhebung von Schärf). In der Tat—und diese Einsicht relativiert Schärfs Hauptthese zumindest für einige der späten Texte Benns: Der Dichter gibt zeitweise die radikale, für ihn selbst am schwersten erträgliche Maxime des "Doppellebens"—hier das mühsam ertragene Alltagsleben, dort die hehre metaphysische Artistenexistenz als "Königsweg der Unsterblichkeit" (399)—auf, lässt 'Berührungen' der beiden Sphären zu...

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