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  • Idylle, Todesraum, Aggression. Beiträge zur Droste-Forschung
  • Cornelia Blasberg
Idylle, Todesraum, Aggression. Beiträge zur Droste-Forschung. Von Renate Böschenstein. Herausgegeben von Ortrun Niethammer. Bielefeld: Aisthesis, 2007. 199 Seiten. €19,80.

Der vorliegende Essayband vereint auf überzeugende Weise zwei Ziele miteinander: Er bietet in prägnanter Zusammenschau sieben Aufsätze zur Droste-Forschung von der 2003 verstorbenen Genfer Literaturwissenschaftlerin Renate Böschenstein, kann also als eine hommage an die ebenso sensible wie individuelle Interpretationsweise der Germanistin gelesen werden. Zwei der Beiträge: der Vortrag "Zur Struktur des realistischen Schreibens. Am Beispiel der Darstellung des psychischen Lebens einfacher Landbewohner" (1993, 1994 überarbeitet) und der gemeinsam mit Bernhard Böschenstein verfasste Rundfunktext "'Schaust Du mich an aus dem Kristall'. Dialog mit einer mutigen Dichterin. Zu Annette von Droste-Hülshoffs 200. Geburtstag" von 1997 werden in diesem Rahmen erstmals publiziert. Neben die wissenschaftliche Sprache der Renate Böschenstein tritt allerdings—und genau diese Nachbarschaft will der Sammelband sichtbar machen—die poetische, vieldeutige, mehrfach chiffrierte [End Page 435] Sprache der Annette von Droste-Hülshoff, deren Werke im Fokus der analytischen Aufmerksamkeit stehen. So will das Buch auch eine Einladung zur erneuten Beschäftigung mit der von der germanistischen Forschung zeitweilig ein wenig vernachlässigten Autorin des 19. Jahrhunderts sein.

Renate Böschenstein hat ihre Arbeiten vor allem den Schriftstellern des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet. Die Texte von Hölderlin, Eichendorff, Mörike und Fontane zählen neben denen der Droste zu ihren bevorzugten Sujets, während im Hinblick auf die Dichtung des 20. Jahrhunderts ihre Interpretationen zu Paul Celan einen bleibenden Platz in der Forschungsgeschichte errungen haben. Das knappe Vorwort von Ortrun Niethammer entwirft mit wenigen Strichen die Konturen des wissenschaftlichen Werkes von Renate Böschenstein, markiert dessen Realismus-Schwerpunkt und benennt vor allen Dingen den Ausgangspunkt der Überlegungen: die Erforschung der Idylle als einer Textgattung und zugleich als einer Schreibweise, die in den modernen Erzählungen und Gedichten des 19. Jahrhunderts eine nachhaltige Irritation hinterlässt. Denn nicht nur das Heiter-Bedächtige, das Kindlich-Friedliche entdeckt Renate Böschenstein in der Idyllendichtung, sondern zugleich die Spuren einer unterdrückten, ausgesparten Aggression. Wenn Idyllen, weist sie nach, eine äußere Bedrohung der dargestellten Welt imaginieren, dann machen sie einen Vorgang zum Thema, der den Texten formal zugrunde liegt. Gemeint ist damit ebenso das programmatische Wegschreiben der Aggression, der Verletzung und des Todes aus dem geschützten Binnenraum der Erzählung wie die Tatsache, dass dieses Wegschreiben am Text ablesbar bleibt und zwingend in die Deutungsarbeit einbezogen werden muss.

Renate Böschensteins Beobachtung einer untergründigen Verbindung zwischen Idylle und Aggression, wie sie beispielsweise der frühe Aufsatz "Die Struktur des Idyllischen im Werk der Annette von Droste-Hülshoff" von 1974 aus Drostes Briefen, Gedichten und dem Epos "Die Schlacht im Loener Bruch" herausliest, führt zu psychoanalytisch inspirierten Deutungen der Texte. Immer wieder verweist Renate Böschenstein auf die Anregungen, die sie durch die Schriften Sigmund Freuds erhalten hat. Den Versuch, psychoanalytisches Denken für die literaturwissenschaftliche Texthermeneutik zu nutzen, findet man vielfältig in der Germanistik der 1970er Jahre, und in der Tat erschließt diese Methode unzählige neue Lektüren gerade solcher literarischer Texte, die—wie die Werke von Annette von Droste-Hülshoff—bislang als spröde, sperrig oder widersprüchlich galten.

Der vorliegende Sammelband dokumentiert auf diese Weise zugleich die Leistungen und die Grenzen des psychoanalytischen Zugangs zur Literatur, und so gesehen schreibt er nebenbei auch ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte. Aus heutiger Sicht mögen manche dieser Interpretationen ein wenig krude wirken. Geschult durch die dicht am Text, gleichsam mit den Bewegungen der sprachlichen Sinnstiftung argumentierenden Arbeiten der Dekonstruktivisten, ist man heute skeptisch geworden gegenüber allzu entschiedenen Entschlüsselungen etwa von bestimmten Landschaftsphänomenen als Hinweise auf phallische, also bedrohliche Mütter oder kastrierende Väter: zumal dann, wenn nicht nur abstrakte Denkmodelle wie erotische Vater-Tochter-Beziehungen verhandelt werden, sondern ganz konkret Annette von Droste-Hülshoffs lebensgeschichtliche Beziehung zu ihren Eltern damit gemeint ist. Auf der anderen Seite wird indes erkennbar, und das zeichnet die bemerkenswerte Qualität der Böschenstein'schen Interpretationen mit ihrer ganz eigenen Handschrift aus, wie viele unerwartete, spannungsreiche, vielschichtige Sinnaspekte sich...

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