University of Wisconsin Press
Reviewed by:
  • Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft
Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft. Von Hans Christian von Herrmann. München: Wilhelm Fink, 2005. 323 Seiten + 45 s/w Abbildungen. €34,90.

Hans Christian von Herrmann geht von der Feststellung aus, daß sich in dem Augenblick im deutschsprachigen Raum eine Theaterwissenschaft etabliert, da sich parallel das Theater vom Drama radikal verabschiedet. Die Theaterwissenschaft zieht aus der Literaturwissenschaft aus wie das Theater aus dem dramatischen Text, beides geschieht um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert. Das gibt dem Autor den Anlaß, Diskurse und Projekte des Theaters der Neuzeit historisch weiträumig unter dem methodologischen Signum eines Archäologie-Konzepts, das Foucault insbesondere in der "Archäologie des Wissens" entwickelt hat, neu zu besichtigen. Er unterteilt sie in zwei große Kapitel: "Literarisches Theater" und "Theater des Lebens." Beim "Literarischen Theater" diagnostiziert er zwei zentrale epistemologische Umbrüche: Der erste liegt um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem "Theater der Souveränität," bei dem ihn insbesondere die perspektivische Raumkonstruktion sowie die—in Anlehnung an Carl Schmitt so formulierte—"theatralische Theologie" der "Dramen der Verstaatlichung" (Joseph Vogel) interessieren. Den zweiten Umbruch macht er um 1800 fest, wo sich das "Theater der Seele" etabliert hat und im Zuge der "Entrhetorisierung" des Theaters die mimischen und gestischen Bewegungen des Körpers des Schauspielers, gedeutet als Zeichen seelischen Ausdrucks, ins Zentrum des theatertheoretischen Interesse gerückt sind. "Psychologie und physiognomischer Ausdruck statt Affektenlehre und Rhetorik—so läßt sich formelhaft die Differenz des bürgerlichen Dramas gegenüber dem Drama des Absolutismus benennen" (106). Das Projekt des literarisch-psychologischen Nationaltheaters bestimmt von Herrmann als Teil des damit einhergehenden "Polizey- und Erziehungswesens" (vgl. 138), wobei man sich [End Page 130] doch fragt, ob darin der subversive Überschuß etwa einiger Dramen des späten Lessing oder des Sturm und Drang tatsächlich zu fassen ist.

Im "Theater des Lebens" um 1900 sucht von Herrmann die Diskurse von "Kinematographie," "Verwandlung" und "Biopolitik" zu (re-)konstruieren, in die auch die Programmschriften der bekannten Theaterreformer (etwa Georg Fuchs, Peter Behrens, E.G. Craig und anderer) für ein neues nicht-literarisches Theater gehören. Hier greift der Autor auf die Bühnen des Wissens von Psychophysik, Neurophysiologie, Experimental- und Ingenieurwissenschaften oder Kinematographie zurück, die zeitlich parallel zu finden sind und auf denen auch das Sprechen über und das Machen von Theater stehen. So entwirft er etwa unter der Überschrift "Kinematographie" ein Feld von Bewegungsstudien, das von Kleists Marionettentheater-Aufsatz über Webers "Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge" (1836), Muybridges und Mareys Bewegungsaufzeichnungen, einer Studie über Beinprothesen (die nach den zahlreichen Kriegen 1881 dringlich wurde) bis hin zu Taylors und Gilbreths Bewegungs- und Zeitstudien reicht und schließlich an Oskar Schlemmers "Gestentanz" und Brechts Geste als V-Effekt grenzt. Oder er zeichnet einen Diskurs der "Verwandlung," in dem er zum einen die "Tanzwut" neben die bekannte Hysterie als "Volkskrankheit" der Zeit plaziert, zum anderen den Übergang des Theaters vom sprachlich-psychologischen in das physikalisch-physiologische Konzept der Erregungsübertragung deutlich macht. Das alles liest sich sehr einleuchtend und es ist ein Vergnügen nachzuvollziehen, wie hier eine Kunst- oder Geisteswissenschaft aufbricht in den Raum der sogenannten "exakten" Natur- und Technikwissenschaften.

Am Beginn der Theaterwissenschaft geht von Herrmann drei Varianten ihrer frühen Konkretisationen nach: den Studien Max Herrmanns, der Theater als "Raumkunst" betrachtet, den Arbeiten Arthur Kutschers, der sie als "Ausdruckskunst" sieht und (zunächst) auf der Dichtung als Ausgangspunkt der Tätigkeit des Regisseurs beharrt, und Hermann Reichs entwicklungsgeschichtlichem Versuch einer Kulturgeschichte des Mimus. Es ist schade, daß uns der Autor in diesem letzten Teil die Rückbindung an die zuvor gehobenen Fundstücke und Fundorte einer Archäologie des Theaters ein wenig schuldig bleibt. Insgesamt aber handelt es sich um ein überaus interessantes und anregendes Buch, das bekannte Texte auf neue Befunde hin liest, neue Texte zu heben versteht und zeigt, wie übergreifend die Diskurse unter einer kulturgeschichtlichen Optik sind.

Marianne Streisand
Fachhochschule Osnabrück

Share