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  • „Zeitlos und dennoch nicht ohne historischen Belang". Über die idealen Zusammenhänge der Geschichte bei dem jungen Benjamin und Hermann Cohen
  • Pierfrancesco Fiorato (bio)

1. Vorbemerkung: Einblick in das Verhältnis einer Wahrheit zur Geschichte

Die Wahl eines angemessenen Themas für die Dissertation bereitete Benjamin erhebliche Schwierigkeiten. Anfang 1918 gestand er sogar in einem Brief an Scholem, sich diesbezüglich in einer „schreckliche[n] Verlegenheit" zu befinden.1 Im Herbst 1917, als er das Projekt gehegt hatte, über „Kant und die Geschichte" zu schreiben (GB I, 390f.), hatte er noch gehofft, die Arbeit an der Dissertation, trotz der dafür verlangten „konventionellen wissenschaftlichen Haltung" (GB II, 23), mit seinen persönlichen Interessen vereinigen zu können. Die Überzeugung, die er am 22. Oktober an Scholem geäußert hatte, „daß es sich im Sinne der Philosophie und damit der Lehre, zu der diese gehört, [ . . . ] nie und nimmer um eine Erschütterung, einen Sturz des Kantischen Systems handeln kann, sondern vielmehr um [End Page 611] seine granitne Festlegung und universale Ausbildung", hätte sich in einem solchen Projekt mit Benjamins tiefwurzelndem Interesse für die Geschichtsphilosophie vereinigen lassen können, dessen Gründe er im selben Brief emphatisch erörtert hatte: „[I]n der Geschichtsphilosophie wird die spezifische Verwandtschaft einer Philosophie mit der wahren Lehre am klarsten hervortreten müssen; denn hier wird das Thema des historischen Werdens der Erkenntnis das die Lehre zur Auflösung bringt, auftreten müssen" (GB I, 389 und 391).

Die Enttäuschung, die ihm die Lektüre von Kants Hauptschriften zur Geschichtsphilosophie bereitete (vgl. GB I, 408), sollte ihn aber bald zur Suche nach einem anderen Thema bewegen. Das Thema der romantischen Kunstkritik taucht das erste Mal in einem Brief an Scholem vom 30. März 1918 auf. [D]ie „Erledigung", wie es nun heißt, der Promotion scheint aber jetzt für Benjamin mit einem Verzicht oder wenigstens mit der Verschiebung der Verfolgung seiner Hauptinteressen verbunden zu sein: „die fernere Auseinandersetzung mit Kant und Cohen muß verschoben werden" (GB I, 441). Auch im Brief an Erst Schoen vom Mai 1918, in dem Benjamin seinem ehemaligen Schulkameraden von der Genehmigung des Themas seiner Dissertation über die „philosophischen Grundlagen der romantischen Kunstkritik" endlich berichten kann, lugt im Hintergrund die ihm immer noch wichtige Auseinandersetzung mit Kant hervor, der nun von ihm als der „größte Gegner" bezeichnet wird. Hier spricht Benjamin auch von „eine[r] sehr wichtige[n] erkenntnistheoretische[n] Arbeit", die zu vollenden er bisher unvermögend gewesen sei und die „schon monatelang" liege (GB I, 455): Gemeint ist das stark von der Auseinandersetzung mit dem Marburger Neukantianismus geprägte Projekt, in dessen Rahmen er einige Monate früher die Schrift „Über das Programm der kommenden Philosophie" verfasst hatte—dieselbe Schrift, die er nun Gershom Scholem bei dessen Ankunft in Bern am 4. Mai (von der derselbe Brief berichtet) überreicht.2 Die gemeinsame Lektüre von Hermann Cohens Kants Theorie der Erfahrung, auf welche die beiden Freunde sich dann im Sommer 1918 einließen, begleitet also still in ihren ersten Schritten Benjamins Arbeit an der Dissertation, ohne dass eine Überschneidung oder auch nur Berührung zwischen beiden Interessenbereichen feststellbar wäre.

Die Arbeit an der Dissertation wird von Benjamin mit derjenigen „innere[n] Anonymität" durchgeführt, die ihm zu solchem Zweck [End Page 612] unerlässlich erscheint: Viel bleibt dabei unentwickelt, so vor allem auch die „geschichtlich fundamental wichtige Koinzidenz [der Romantik] mit Kant, die zur ,dissertatorischen' Erscheinung zu bringen sich unter Umständen als unmöglich erweisen könnte" (GB I, 456). Nichtsdestotrotz kann Benjamin am 8. November 1918 Ernst Schoen mitteilen, dass die Dissertation für ihn „keine verlorne Zeit" sei: „Das was ich durch sie lerne, nämlich einen Einblick in das Verhältnis einer Wahrheit zur Geschichte, wird allerdings darin am wenigsten ausgesprochen sein, aber hoffentlich für kluge Leser bemerkbar." (GB I, 486) Der hier angedeutete untergründige Zusammenhang zwischen dem Text der Dissertation und derjenigen geschichtsphilosophischen Problematik, die Benjamin so sehr am Herzen lag, hat stets das Interesse der Interpreten geweckt. Meistens hat sich dabei ihre Aufmerksamkeit auf das Thema des romantischen Messianismus konzentriert, d.h. auf dasjenige „Zentrum der Romantik", wie Benjamin ihn in einem...

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