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  • Die Erbschaft der Konstellation.Adorno und Hegel
  • Gerhard Richter (bio)

Daß die Erfahrungswelt Theodor W. Adornos von zoologischen Motiven und Tiernamen durchzogen war, ist spätestens seit der Veröffentlichung seiner Briefe an die Eltern bekannt, in denen häufig genug aus dem Tierreich abgeleitete Kosenamen wie Nilstute, Giraffe, Gazelle, Pferd oder gar „Rossilein" auftauchen. Selbst auf von Adorno ausgewählten Postkartenmotiven finden sich Giraffen und Nilpferde wieder, und über seinem Arbeitstisch im kalifornischen Exil thronte eine Gruppe von Spielzeuggiraffen.1 Entschieden weniger ins Bewußtsein seiner Leser gerückt ist die Tatsache, daß zoologische Figuren und Sinnbilder auch einen strategischen Stellenwert in seinem philosophischen Schaffen einnehmen.2 Unter den Motiven des mit „Improvisationen" überschriebenen Abschnitts aus Quasi una fantasia.Musikalische Schriften II ist an einer 1951 verfaßten Stelle von einem Zoologischen Garten die Rede, den Adorno als Kind besuchte. Aus diesem Zoo seien Adorno nicht lediglich die Tiere in Erinnerung geblieben, sondern auch ein gewisser Musikpavillion, in dem zuweilen Mitglieder sogenannter exotischer Stämme Darbietungen vortrugen. „Sei es das Gedächtnis daran", so heißt es, „sei es einzig die Verdichtung [End Page 446] des Längstvergangenen—heute noch fällt mir zum Paukenschlag der Name des Häuptlings Tamasese ein und zugleich: Pauke werde eigentlich auf den Köpfen von dessen Gefangenen gespielt, oder sie sei der Mörser, darin die Wilden das Menschenfleisch abkochen." Adorno fährt fort: „Hat das Schlagzeug die Menschenopfer abgelöst, oder befiehlt es sie immer noch? In unsere Musik tönt es als archaische Spur. Es ist die Erbschaft der Gewalt an die Kunst—der Gewalt, die auf dem Grunde all ihrer Ordnung liegt."3 Ganz so, als zöge er unterirdische Parallelen zu Walter Benjamins Überzeugung, daß es kein Dokument der Kultur gebe, welches nicht zugleich Dokument der Barbarei sei; ganz so, als wolle er gleichzeitig Freuds Verknüpfung vorausgehender Zivilisationsformen mit dem psychischen Apparat des heutigen Neurotikers in Verbindung bringen; ganz so, als beab-sichtige er auf autobiographisch vermittelte Weise das Hauptmotiv der wenige Jahre zuvor zusammen mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung—nämlich das Ineinandergreifen von rational-fortschrittlicher Entzauberung und ungewolltem Rückschritt—noch einmal einem literarisch anmutenden Denkbild einzufügen, verleiht Adorno hier der Problematik der Erbschaft strategischen Ausdruck. Die besondere Erbschaft, um die es sich hier dreht, ist das geheime Fortleben der inhumanen Herrschaft im Gewand der humanen Freiheit, die Rücknahme der Gewalt im Bereich des Vergeistigten einer Kunst, die diese jedoch unterschwellig weiter ausübt. Gleichzeitig aber bringt Adorno über das Besondere der vergeistigenden, ästhetisierenden Kunst die grundsätzliche Thematik der Erbschaft zur Sprache. Für beide, die besondere Erbschaft der Gewalt an die Kunst und die allgemeine Problematik der Erbschaft als solcher, mag gelten, daß ein verantwortungsvoller Umgang mit ihr „das Bewußtsein des Schreckens wachhält, dessen, was sich nicht mehr gutmachen läßt".4

Öffnen sich die Tore des hier versinnbildlichten Zoologischen Gartens dem gesamten Schaffen Adornos, so kann das vielschichtige Werk des Denkers als eine Reihe von Versuchen aufgefaßt werden, auf begrifflicher, methodischer und politischer Ebene Rechenschaft über seine Erbschaft ihm vorausgegangener unterschiedlicher Vorstellungs-und Erfahrungswelten abzulegen. Zu dieser unablässigen Auseinandersetzung mit dem Erbe, welches das eigene Denken entscheidend mitbestimmt und das es dennoch stets aufs Neue zu überschreiten und zu unterwandern gilt, gehören unter anderem das Erbe der [End Page 447] Aufklärung, des Deutschen Idealismus, des historischen Materialismus, der modernen Kunst und ihrer Ästhetik, der Psychoanalyse, der Erfahrung des Antisemitismus, der deutschen Musikgeschichte, der Zweiten Wiener Schule um Schönberg, der modernistischen Literatur von Kafka bis Beckett und Celan, der Dialektik von Kultur und Barbarei sowie—grundsätzlich—des Lebens „nach Auschwitz". Leser von Adornos Texten werden unwillkürlich Zeugen eines immer von vorn ansetzenden Versuchs, einem Erbe in seiner Komplexität gerecht zu werden, selbst wenn dies bedeutet, es radikal in Frage zu stellen oder gar mit ihm zu brechen. Denken heißt bei Adorno nämlich erben. Philosophieren zu lernen heißt erben zu lernen, denn die besondere Art und Weise des Erbens, die ein je anderer Gegenstand dem begrifflich-erfahrenden Denken auferlegt, kann nicht ein für alle mal festgeschrieben sein, als sei es eine Instanz Cartesianischer Methode, sondern...

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