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  • Vielleicht. Über eine Minimalfigur kosmologischer Imagination zwischen Milton und Kant
  • Justus Fetscher (bio)

1. Kosmos und Imagination

Hans Blumenberg hat die Verbindung von Astronomie und Rationalität als Kennzeichen der Aufklärung benannt. Er zielte damit auf die Nachrangigkeit, die der bloßen Himmelsbeobachtung aus der Perspektive der Vernunft zufällt. Der an Kopernikus‘ System gefeierte Triumph der neuzeitlichen Naturwissenschaft sollte gerade darin bestehen, dass der Theoretiker das Himmelsgebäude, das er umentworfen hatte, im preußisch-polnischen Frauenburg so gut wie nie hatte sehen können. Erst seine Theorie macht einsichtig und integriert zum System, was der Empirie allenfalls als phänomenaler Schein sichtbar zu werden vermochte. Der von Blumenberg dargelegte Bedarf der Kosmologen an theoretischer Imagination erklärt sich aus der singulären Unverfügbarkeit ihres Studienobjekts. Unbekannte Dimensionen des Kosmos sind außer Reich-, Sicht- und Sondierungsweite, seine Geschichte, sein Ursprung und Wesen, seine Expansions- und Kontraktionsgeschwindigkeit und sein Ende bedürfen der Spekulation. Experimenteller Erprobung ist dieses Mega-Objekt in toto nicht zu unterwerfen, da vorerst kein zweiter und dritter Kosmos für deren allfällige serielle Wiederholung bereitsteht. Auch die Vorstellung von außerirdischen vernünftigen Lebewesen—Blumenberg zufolge waren sie „immer ein Paradestück der Aufklärer“—1 ist bis heute nicht verifiziert. [End Page 511]

Ein Stichwort, bei dem die literarische Imagination mit dem naturtheoretischen Diskurs über die Strukturen des Universums interferiert, ist das Vielleicht. Das Wort eröffnet Vorstellungsräume, die kosmologisch gerade schon abzusehen oder gerade noch nicht ausgeschlossen worden sind. Poetische Kosmologie entfaltet sich in den Lücken, welche die astronomische Argumentation offen lassen musste und selber nur mit Vermutungen, anders gesagt: mit Analogieschlüssen, theoretischen Fiktionen und rhetorischen Figuren überbrücken konnte. Die Unabgeschlossenheit der Naturerkenntnis lizensiert also, auch im Diskurs der Himmelstheorie selber, eine Interferenz kosmologischer Ansichten und poetischer Himmelsvisionen.

2. „Stor‘d in each Orb perhaps . . .“: Paradise Lost

Charakteristisch für diesen Schwebezustand der kosmologischen Theorie und fortan tonangebend in seiner meisterlichen poetischen Setzung des Wortes perhaps ist John Miltons Epos Paradise Lost (1667). Offensichtlich verhandelt das kleine poetologische Adverb vielleicht den ganzen himmelstheoretischen Komplex des Miltonschen Werks. Dessen erstes Buch könnte Heaven Lost heißen, denn es beschwört den Aufstand Satans und der ihm angeschlossenen Engel sowie deren Niederlage gegen das göttliche Heer und ihren Sturz in die Tiefe der Hölle. Wenn Adam vier Bücher später den Erzengel Raphael um einen Bericht dessen, was seinerzeit geschehen sei, bittet: „full relation“ über „what thou tellst / Hath past in Heav‘n,“2 wird das Himmels-Epos selbstreflexiv. Es rekapituliert Vergangenes—things past—, die es zuvor schon einmal antiken mythischen Quellen nacherzählt hatte. So gewiss Adam davon überzeugt werden soll, dass das, was ihm Raphael nun narrativ vorstellt, die wahre Geschichte vom Abfall der satanischen Engel ist, so ungewiss ist im selben Atemzug mindestens dreierlei. Erstens: woher der Epiker weiß, was Raphael wissen sollte und auf eine derartige Frage zu sagen hätte. Zweitens: warum die heidnischen und dogmatischen Quellen vom Gefecht im Himmel einer poetischen Überschreibung bedürfen. Und drittens: welchen Eindruck ein solcher himmlischer Ungehorsam und Kampf auf das menschliche Gemüt, prototypisch inkarniert in Adam, wohl machen könnte. Vielleicht keinen guten, sagt Raphael—als ahnte er schon die Aufnahme des Epos in der englischen Romantik, die in [End Page 512] Satan dessen faszinierendste Figur sehen sollte,3 voraus: „High matter thou injoinst me, O prime of men, / Sad task and hard, for how shall I . . . unfould / The secrets of another world, perhaps / Not lawful to reveal?“4

Die Reichweite des Miltonschen perhaps ergibt sich aus dessen Koppelung an jene geheimnisvolle andere Welt, mit der drei einander koextensive Räume benannt sind: der Schöpfungskosmos als Schauplatz des Epos, der Weltraum der physikalischen Erkenntnis auf dem Stand von 1667 und das Reich der Fiktion. Mit der Verwendung des Wortes perhaps springt die poetische Rede vom Boden des faktisch sein sollenden Berichts in ein höheres Orbital. Hier wird konjunktivische Rede—im Sinne des Referierens von nicht selbst Erlebtem und nicht aus eigener Kenntnis zu Legitimierenden, auch des Optativs und des Potentialis—überflüssig, denn sie ist in dem Modus, der mit dem Vielleicht bezeichnet ist, immer schon aufgezeigt. Das...

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