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  • Handbuch zur narrativen Volksaufklärung: Moralische Geschichten, 1780–1848
  • Alfred Messerli (bio)
Handbuch zur narrativen Volksaufklärung: Moralische Geschichten, 1780–1848. By Heidrun Alzheimer-Haller. Berlin: Walter de Gruyter, 2004. 899pp.

Moralische Geschichten sind kurze, literarisch konstruierte Erzählungen, die im 18. Jahrhundert zunächst von protestantischen, dann aber auch von katholischen Autoren—meist von Geistlichen oder Lehrern—als didaktisches Instrument zur Veranschaulichung der aufklärerischen Tugendlehre (Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Enthaltsamkeit, Höflichkeit, Mäßigkeit, Tierliebe, Reinlichkeit, Wohltätigkeit, Zufriedenheit) verfasst wurden. Die Erzählungen sind in alltäglichen Situationen angesiedelt; die Personen handeln darin vorbildlich oder aber unmoralisch. Die Autoren erhofften sich dadurch, auf die Lesenden wirken zu können, indem diese durch Nachahmung dem guten Exemplum nachzueifern versuchten oder aber sich von den schlimmen Beispielgeschichten abschrecken ließen.

Dieser literarischen Gattung oder “Textsorte” hat sich Heidrun Alzheimer-Haller in ihrer Habilitationsarbeit angenommen, indem sie ihr Aufkommen um 1760 beschreibt, ihre Adressaten, Medien, Distributionsformen, ihre Rezeption und endlich ihr allmähliches Verschwinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ja, sie hat die Gattung, so könnte man sagen, wenn nicht entdeckt, so doch in ihrer Bedeutung für den Prozess der Zivilisation und als Quelle für eine Mentalitätsgeschichte recht eigentlich entdeckt. Theoretische und bibliographische Vorarbeiten und Impulse zu dieser umfangreichen [End Page 163] Forschung sind von Wolfgang Brückner und seiner Charakterisierung der bisher wenig beachteten “Kurzprosaerzählungen” als “narrative Aufklärung” (“Moralische Geschichten als Gattung volkstümlicher Aufklärung,” Jahrbuch für Volkskunde, NF 10 [1987]: 115), von Dieter Richter, was die argumentative Struktur der von ihm untersuchten “Kinderunglücksgeschichten” betrifft (Das fremde Kind [Frankfurt am Main: Fischer, 1987]), und von Reinhart Siegert und Holger Böning und ihrem bibliographischen Großunternehmen zur Volksaufklärung ausgegangen (Volksaufklärung: Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850 [Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann/Holzboog, 1990–2001] Bd. 1–2).

Alzheimer-Haller versteht die “moralische Erzählung” als ein Subgenre des Exempels, und wie dieses handelt es sich um eine narrative Minimalform, die eine abstrakte, theoretische oder thesenhafte Aussage in einer Geschichte veranschaulicht und die abstrakte Wahrheit dadurch gleichsam beweist, erläutert und so als lebenspraktische Orientierungshilfe dient. Der Pädagoge Johann Bernhard Basedow (1724–1790) schätzte die moralische Geschichte, weil sie nicht nur den Verstand, sondern zugleich auch die Einbildungskraft beschäftige. Während die an den Verstand sich richtenden Worte leicht vergessen würden, hafteten die durch die Erzählung gestifteten Vorstellungen und Bilder fest im Gedächtnis (118). Für den Psychiater und Autor des Struwwelpeters, Heinrich Hoffmann (1809–1894), lerne das Kind überhaupt “nur durch das Auge,” und nur das, was es sehe, begreife es (119). Das Ziel der beabsichtigten identifizierenden Lektüre mit den “Helden und Heldinnen” der moralischen Erzählungen lag, nach der Vorstellung der Autoren, im imitativen Nachvollzug. Und um die Nachahmung zu erleichtern, sind die Erzählungen in einem dem Leser vertrauten bürgerlichen Ambiente angesiedelt; bei den Figuren handelt es sich um Durchschnittsmenschen. Anstelle des Wunderbaren und eines die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und der Physik außer Kraft setzenden himmlischen Eingriffs (etwa durch Heilige), geht alles mit rechten Dingen zu. Die Faktizität ist denn zentrales Charakteristikum dieser Gattung, und ihr Aufkommen in Deutschland, zusammen mit der Volksaufklärung, weist sie als Abkömmling und literarisches Instrument eben dieser kulturellen Bewegung aus.

Die Medien, welche diese moralischen Geschichten verbreiteten, waren einmal ab 1780 die Kinder-und Jugendliteratur einerseits und das Schul- bzw. Lesebuch andererseits. Aber auch an erwachsene Leser gerichtete Periodika wie die Moralischen Wochenschriften, Intelligenzblätter, Zeitungen und Kalender, oder Katechismen konnten moralische Geschichten enthalten.

Ausgewertet, d.h. bis auf die einzelne Geschichte verzettelt, hat die Autorin 23 für Erwachsene und 27 für Kinder und Jugendliche bestimmte Schriften (154). Das Register der Motive, Tugenden und Laster (375–457) ist [End Page 164] hilfreich und gibt einen Eindruck der thematischen Weite (und zugleich ästhetischen Enge) des untersuchten Materials. Dabei bleibt manches nicht angemerkt, was eine Anmerkung verdient hätte, und wäre es auch nur darum gewesen, nachzuweisen, dass auch die Autoren der “moralischen Geschichten” mitunter fleißig abschreiben. Wenn unter “Habgier” steht: “Wirt verlangt...

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