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  • Literaturgeschichte als wahre Geschichte. Mittelalterrezeption in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und politische Instrumentali[si]erung des Mittelalters durch Preussen
  • Andrea Grafetstätter
Literaturgeschichte als wahre Geschichte. Mittelalterrezeption in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und politische Instrumentali[si]erung des Mittelalters durch Preussen. By Günter Schäfer-Hartmann. MeLiS, 9. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009. Pp. 333. EUR 56.50.

Die von Claudia Brinker-von der Heyde und Horst Wenzel betreute Kasseler Dissertation fokussiert die Vernetzung von Mittelalterrezeption und Politik. Im ersten Teil der fast fehlerfreien Dissertation (ausgerechnet im Untertitel und im Resümee haben sich Fehler eingeschlichen), die sich zum Ziel gesetzt hat, „den hohen Stellenwert der Literaturgeschichten als Medium von Literaturrezeption" (S. 109) aufzudecken, werden zunächst der Begriff Mittelalterrezeption umrissen und theoretische Vorüberlegungen hinsichtlich der „Nationalliteraturgeschichtsschreibung im Kontext von Mentalitäten und Zeitgeist" (S. 21) abgehandelt. Dann wird der vielbeschworene „Sonderweg" der Deutschen als Grundlage für die Erklärung der Mittelalterrezeption gewertet, die oft, wie der Verfasser darlegt, als Ersatz für die fehlende Einheit der Nation dienen musste. Im Folgenden wird dezidiert auf den Umgang mit dem Mittelalter in der Romantik „als Sinnstiftung von Identität, Tradition und Erbe" (S. 63) eingegangen und die „Funktion von Literaturgeschichtsschreibung und Literatur im 19. Jahrhundert" (S. 74) umfassend und mit viel Hintergrundinformation auf witzige und ironische Weise aufbereitet, so dass selbst eher trockene Wissensvermittlung nie langweilig wird. Besonders überzeugend und spannend gestaltet sich die schlüssig herausgearbeitete Beschreibung der Gebrüder Grimm als „Leitphilologen" (S. 117) und ihres wirklich unglaublichen Einflusses auf die (patriotische) Literaturgeschichtsschreibung und Mentalitätsgeschichte.

Der zweite Teil lenkt dann über zu den politischen Gegebenheiten, indem ein Blick auf Preußen und den Umgang der politischen Führungsschicht mit dem Mittelalter geworfen wird. Dabei erscheinen die repräsentativ gewählten Schwerpunktsetzungen sinnvoll, es werden z.B. der Sängerkrieg auf der Wartburg oder der Kyffhäuser-Mythos genauer umrissen (die Erläuterungen zum Sängerkrieg sind dabei wie bereits seine mittelalterliche Überlieferung etwas verwirrend), genauso wie die Vermittlung von mittelalterlichen Stoffen und Motiven durch Richard Wagner wegen der weit reichenden Wirkungsmacht seiner Musikdramen auf breite Schichten. Dazu fokussiert der Autor auch ikonographische Rezeptionsdokumente wie z.B. die Gemälde von Moritz von Schwind.

Einleuchtend werden die politisch-didaktischen Zielsetzungen der Verfasser von Literaturgeschichten und - anhand des vermuteten Publikums - ihre pädagogischen Ambitionen herausgearbeitet, deren Auswahl z.B. nach Konfession der Verfasser und nach geographischen Schwerpunkten erfolgt. Beim jeweiligen [End Page 116] Autor werden dann „Fragen zur Funktion seiner Literaturgeschichtsschreibung" (S. 84) aufgeworfen. Vielleicht wäre es von Vorteil gewesen, hier zwischen wissenschaftlicher und quasi künstlerischer Literaturgeschichte zu trennen und Joseph von Eichendorffs Literaturgeschichte eine Sonderstellung einzuräumen. Ergebnis dieses Abschnittes ist, daß „Literaturgeschichtsschreibung zu echter Geschichtsschreibung avanciert" (S. 97).

Teilweise umfangreiche Zitate erhellen die Denkweise und Konzeption der Verfasser von Literaturgeschichten; hierin liegt aber zugleich ein möglicher Kritikpunkt der Dissertation: Ein zu buntes, chronologisch verwirrendes Mosaik an massiert eingebrachten Zitaten kann bisweilen ein wenig kontraproduktiv sein. Dasselbe trifft auf die umfangreichen Fußnoten zu, die allerdings ein wie ich finde angenehmes additionales Angebot darstellen. Als pedantische Schulmeisterei sei lediglich angemerkt, dass eine Neunummerierung der Fußnoten pro Kapitel hilfreich gewesen wäre, denn bei insgesamt 1363 Fußnoten ist der Nachvollzug etwas erschwert.

Als Mediävistin besonders begrüßt habe ich mittelhochdeutsche Zitate (z.B. S. 231f.), mit denen die Aussagen in Literaturgeschichten und wissenschaftlichen Dokumenten abgeglichen werden. Eine Behandlung von Martin Opitz (1624), der die Qualität der einheimischen Produktionen anhand von Versen aus Walthers Leich untermauert, hätte eine willkommene Ergänzung geboten.

Der Verfasser hat den Spagat zwischen literarischer und historisch-politischer Disziplin bravourös gemeistert. Die vorliegende Dissertation, die durch einen informativen Bildteil abgerundet wird, zeichnet sich in ihrer „dichten Beschreibung" (Geertz) durch sorgfältige Literaturrecherche und skrutinöses Auswerten der Quellen und Literatur aus. Die Qualität der Dissertation zeigt sich auch darin, dass das Erreichen des Resümees nicht mit Erleichterung, sondern mit Bedauern quittiert wird. Insgesamt eröffnet die vorliegende Dissertation, die sich auch sprachlich-stilistisch gut und spannend liest, neue Einblicke in ein facettenreiches Thema. Sie kann Historikern wie Literaturwissenschaftlern gleichermaßen sinnvolle Lektüre(n) bieten.

Andrea...

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