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  • Goethe und Goethe-Philologie als Muster der neugermanistischen Editionswissenschaft: Eine Skizze mit Blick auf literaturwissenschaftsgeschichtliche Kontexte
  • Rüdiger Nutt-Kofoth

Dass “Goethe-Philologie” nicht nur einen spezifischen wissenschaftli-chen Umgang mit Goethe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meint, sondern zum Paradigma der neugermanistischen Fachentwicklung seit den 1870er Jahren bis um die Jahrhundertwende werden konnte, ist inzwischen fester Bestandteil der Fachgeschichtsschreibung für die neuere deutsche Literaturwissenschaft.1 Gefüllt wurde dieser Begriff in der Geschichtsschreibung der deutschen Literaturwissenschaft lange mit der Vorstellung von “kleinkarierte[m] Expertenwissen” und dem damit verbundenen “häufig unreflektierten Dichterkult.”2 Der sich in Aufgriff der und Analogie zu den Naturwissenschaften entwickelnde literaturwissenschaftliche Positivismus, wie die Bezeichnung jener Phase der deutschen Literaturwissenschaft im Allgemeinen lautet, schien daher angetreten, jene “Mühe positiver Kleinarbeit” für die “Totalität der Sachen” als Voraussetzung für die “Totalität des Geistes” zu begründen,3 nur dass sich das Mittel der “Totalität der Sachen” gegenüber dem Ziel zunehmend verselbständigte. Wie kein anderer gilt Wilhelm Scherer unter den Wissenschaftlern der frühen Neugermanistik als Personifizierung des germanistischen Positivisten, weil er—u.a. mit einem Aufsatz von 18704—die Verbindung von Naturund Geisteswissenschaften methodologisch fruchtbar zu machen suchte. Dass es ihm durch seinen überragenden Einfluss gelang, seine Schüler auf wichtige Positionen zu platzieren, verstärkte noch die Wirkung seines Wissenschaftskonzepts.5 Zu denken gibt allerdings schon, dass Scherer sein Konzept nie selbst unter das Etikett des Positivismus stellte,6 sondern eine solche Zuschreibung an Scherer erst postum 1908 von Rudolf Unger erfolgte, und zwar genau zu dem strategischem Zweck, das literaturwissenschaftliche Paradigma der Geistesgeschichte einzuleiten.7

Die neuere wissenschaftsgeschichtliche Forschung8 hat darauf aufmerksam gemacht, dass die schematische Opposition von Positivismus und Geistesgeschichte nur einen vorläufigen heuristischen Wert haben kann, denn der mikrostrukturelle Blick vermag das Schwarz-Weiß-Schema einer solchen Makrostruktur vielfach aufzulösen, zumindest erheblich zu differenzieren. Dies macht aber deutlich, wie wichtig es ist, sich der Wissenschaftsgeschichte [End Page 215] in unterschiedlichen Aufrissen zu nähern, weil die jeweilige Perspektive Teil einer kumulativen und damit sowohl vollständigeren als auch präziseren Gesamtbeschreibung zu werden vermag. Das mögen die folgenden Überlegungen andeuten, indem sie die Rolle von Goethe und Goethe-Philologie nicht für die Neugermanistik allgemein, sondern für einen ihrer Teilbereiche, nämlich die neugermanistische Editionswissenschaft, in den Blick nehmen. Dass damit auch eine der zentralen Bestrebungen Scherers, sein Bemühen um eine umfassende wissenschaftliche Goethe-Ausgabe, zu berücksichtigen ist, zeigt die besondere Verflechtung der frühen neugermanistischen Fachgeschichte mit derjenigen der Editionswissenschaft.

I

Inwieweit sich Konzepte der Literaturwissenschaft aus den Konzepten des Autors herleiten können, also nicht dem Erkenntnisinteresse einer autonomen, sondern einer derivativen Wissenschaft geschuldet sind, verdeutlicht das Verhältnis der frühen Neugermanistik zum Autor Goethe. Für den editorischen Bereich9 betrifft das vor allem zwei Punkte: die Frage der Anordnung von Werken in einer Gesamtausgabe und die der Fassungswahl bei der Textkonstitution. Zu beiden Punkten gibt der Autor Goethe explizite Erklärungen ab. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um innovative Setzungen, sondern um Fortschreibungen oder auch Konterkarierungen zeitgenössischer Positionen.

Wie erscheint das Autorwerk in einer Gesamtausgabe? Als Alternative steht das gattungssystematische dem chronologischen Ordnungsverfahren gegenüber. Die Entscheidung Goethes ist eindeutig. In seinen Werkausgaben hat er die Ordnung nach Gattungen oder Textsorten durchgeführt. Für die zweite Werkausgabe bei Cotta 1815–19 hat er sie zudem 1816 öffentlich, mit einer Stellungnahme im Cotta’schen Morgenblatt, begründet. Goethe benutzt dabei die kurz zuvor erschienene chronologisch angeordnete Schiller-Ausgabe Christian Gottfried Körners10 als Kontrapunkt. Dabei argumentiert er zum einen mit der Differenz seiner Produktionsweise zu derjenigen Schillers und macht zum anderen die Kategorie des Werks gegenüber derjenigen einer der werkchronologischen Ordnung immanenten Autorbiografie stark:

Wir haben zwar an der Ausgabe Schiller’scher Werke ein Beispiel solcher [chronologischer] Anordnung; allein der Herausgeber derselben war in einem ganz andern Falle als der ist, in welchem wir uns gegenwärtig befinden. Bei einem sehr weiten Gesichtskreise hatte Schiller seinen Arbeitskreis nicht übermäßig ausgedehnt. Die Epochen seiner Bildung sind entschieden und deutlich; die Werke, die er zu Stande gebracht, wurden in einem kurzen...

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