In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

  • Man sucht einen Mittelpunkt und das ist schwer und nicht einmal gut”: 1 Figurationen der Verdopplung in Wilhelm Meisters Lehrjahren
  • Lavinia Meier-Ewert

Unmöglich zu beginnen, ohne selbst bereits zu verdoppeln.

Ich wünschte, versetzte Wilhelm, daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vorgeht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespeares Stücken erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Rätsel offenbarte, ohne daß man doch sagen kann: hier oder da ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt.

(MA 5:190–91)

Den tiefen Eindruck, den seine nicht ohne Skepsis begonnene Lektüre von Shakespeares Werken auf Wilhelm Meister gemacht hat, kann er seinem Gesprächspartner und Bildungsbeauftragten Jarno nicht wiedergeben, nicht ent-decken, ohne diese—und mit ihr den gelesenen Text—zu verändern: In der Nacherzählung wird der gelesene zum paraphrasierten Text, er verdoppelt sich und wird sich darin selbst zu einem Anderen. So sehr Wilhelm wünschte, “alles, was gegenwärtig in [ihm] vorgeht,” entdecken zu können, so sicher entglitten ihm die scheinbar offenbaren “Rätsel,” sobald das “Wort der Auflösung” “hier oder da” eindeutig vorgefunden und ausgesprochen werden könnte, sobald er “die geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe” auf einen Nenner zu bringen versuchte.

Das Phänomen der Verdopplung, das im Folgenden als Strukturprinzip von Johann Wolfgang Goethes 1795 erschienenem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre herausgearbeitet werden soll, scheint also zunächst—ohne gleich mit Roman Jakobson “alles Kunstwerk . . . auf das Prinzip des Parallelismus zurückführen”2 zu wollen—ganz allgemein und wesentlich eine Eigenschaft des Sprechens von dem Kunstwerk und also: von Text zu sein. Der wiederum spricht ja selbst mindestens doppelt—wie der vorliegende Text im Übrigen [End Page 261] auch, indem er im soeben Ausgesagten, im Anthropomorphisieren des Textgebildes, notwendigerweise in die Tropik gewechselt ist.

Aber zurück zu Shakespeare, gelesen von Wilhelm Meister, wiederum gelesen von mir. Kein “Wort der Auflösung” entspricht den “geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfen”—man beachte den Superlativ—in seinen Stücken, eben weil sie keine einfachen Geschöpfe sind, sondern zweifach, gedoppelt: “Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht.” Auseinanderdividiert verlören diese zugleich eigentlichen wie uneigentlichen Gestalten nicht nur ihr Geheimnis, sie lösten sich auf—denn sie sind nicht als etwas Stabiles, keines ihrer Teile ist als sich selbst präsente Entität zu denken. Sie konstituieren sich erst in ihrer Zusammensetzung, in ihrem wechselseitigen Aufeinander-Bezogen-Sein.

Und auch ihre Wirkung ist mindestens eine doppelte. Denn ganz augenscheinlich geht es in der anfänglich zitierten Passage aus den Lehrjahren auch um ein bestimmtes Darstellungsprinzip: um eines nämlich—Wilhelm versinnbildlicht dies in der Metapher der kristallklaren Uhr—, dem gemäß besagte “Geschöpfe” sowohl den “Lauf der Stunden” anzeigen sowie zugleich “das Räder- und Federwerk . . ., das sie treibt.” Übertragen auf Text—denn von nichts anderem ist hier die Rede—haben wir es also offensichtlich mit einem poetischen Text zu tun, der als solcher ebenfalls doppelgleisig fährt: Mit einer Darstellung, die ihr Darstellungsprinzip—und ihr Hervorgebrachtsein, nämlich das Gelesenwerden—selbst mit darstellt. Das wiederum gilt gemeinhin als ein Charakteristikum frühromantischer Reflexionspoesie, doch dazu später.

Die eingangs zitierte Textstelle reflektiert als poetologische Selbstauskunft des Textes etwas, das die Struktur des gesamten Romans kennzeichnet. In Wilhelm Meisters Lehrjahren, so lautet der erste Teil meiner These, kommt Figurationen der Verdopplung, Spiegelung und Überlagerung eine text- wie bedeutungskonstituierende Funktion zu. Ich ziehe den Begriff “Figuration” hier dem der “Figur” vor, um dem instabilisierenden, dynamisierten Charakter dieser Konstellationen im Text Rechnung zu tragen. Von Goethe selbst bekann termaßen als eine seiner “inkalkulabelsten Produktionen” (Goethe zu Eckermann...

pdf

Share