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  • Introduction
  • Bernd Hamacher

In der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik wurde bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen die Goethe-Philologie als Paradigma für die Theorie- und Methodenentwicklung in der Literaturwissenschaft insgesamt beschrieben. Nicht ausreichend aufgearbeitet ist indes, dass die Neugermanistik im 19. Jahrhundert nicht nur aus der Goethe-Philologie heraus entstanden, sondern ihre disziplinäre Gestalt noch bis in die Gegenwart hinein von diesen Entstehungsbedingungen geprägt ist. Bei einzelnen Segmenten der wissenschaftlichen Terminologie—wie etwa bei den Gattungsbegriffen oder bei Begriffen wie “Symbol”—ist evident, dass wichtige Grundbegriffe noch der heutigen (deutschen) germanistischen Wissenschaftssprache nicht ohne Rekurs auf Goethe zu definieren sind. Eher verdeckt wird durch solche punktuellen begriffsgeschichtlichen Evidenzen der Umstand, dass die Literaturwissenschaft ihre Grundbegriffe und damit zentrale Elemente ihrer Wissenschaftssprache insgesamt systematisch aus Goethes Schriften bezog. Diese ursprünglich intentionale Vermischung von Objekt- und Metasprache ist ursächlich für zentrale systematische Probleme der Germanistik als moderner analytischer Wissenschaft.

Nicht nur auf dieser Ebene der Terminologie und der Begriffsgeschichte, sondern auch in der disziplinären Struktur der Germanistik insgesamt und bei den interdisziplinären Anschlüssen dienten Goethe und die Struktur seines Werks den germanistischen “Gründervätern” wie Wilhelm Scherer als Maßstab und Orientierung. Scherers unvollendet gebliebener Versuch der Begründung einer empirischen Ästhetik verdankt sich zumindest einer doppelten Optik: einerseits der Aufnahme von Impulsen der seinerzeit avanciertesten Wissenschaften und Theorien wie der Entwicklungsbiologie und der Nationalökonomie, andererseits aber stets dem Seitenblick auf Goethe und auf die Verflechtung unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven in dessen Werk.

Auf der Basis der historischen Rekonstruktion zeigt sich auch die aktuelle Theorieentwicklung der Literaturwissenschaft in einem neuen Licht, wie die unter dem Titel “The Emergence of Modern German Literary Studies out of Goethe Philology” von der Goethe Society of North America veranstalteten Panels bei der 33. Jahrestagung der German Studies Association in Washington, DC im Oktober 2009 zeigten. Die Goethe-Philologie erweist sich—dies belegen die folgenden Beiträge—nicht etwa nur als problematisches Erbteil der Neueren deutschen Literaturwissenschaft; der historisch [End Page 213] informierten Analyse der aktuellen disziplinären und methodischen Lage eröffnen sich vielmehr innovative Perspektiven für die Fachentwicklung in der theoretischen Grundlegung einerseits und interdisziplinären An schl üssen andererseits.

Rüdiger Nutt-Kofoth zeigt die Musterfunktion von Goethes eigenen editorischen Entscheidungen für die Goethe-Philologie und dieser für die gesamte neugermanistische Editionswissenschaft, während Robert Walter anhand der intertextuellen Konstruktion der Subjektivität in Dichtung und Wahrheit die Modellfunktion von Goethes Autobiografie nicht nur für die traditionelle Autobiografietheorie, sondern gerade auch für aktuelle subjektivitätskritische Theorien und einen “postmodernen” Goethe erweist. Lavinia Meier-Ewerts Aufsatz erbringt mit ihrer Untersuchung der Figurationen der Verdopplung in den Lehrjahren einen vergleichbaren Nachweis für Goethes “performativen Bildungsroman,” der in der Vergangenheit ebenso als Inbegriff des geschlossenen Ganzen gelten konnte, wie er für einen heutigen Zugriff die Unabschließbarkeit der Lektüre demonstriert. Im einen wie im anderen Falle dienten und dienen Goethes Texte nicht nur der Illustration und Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien, sondern fungieren geradezu als Generatoren der Theoriebildung. Daher ist auch über die Goethe-Forschung hinaus danach zu fragen, wie viel “Goethe” nach wie vor in der Literaturwissenschaft steckt. [End Page 214]

Bernd Hamacher
Universität Hamburg
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