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  • “Das Kind in meinem Leib”: Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August: Eine Quellenedition, 1777–1786
  • Ehrhard Bahr
Volker Wahl, Hrsg., “Das Kind in meinem Leib”: Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August: Eine Quellenedition, 1777–1786. Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, 10. Mit einem Nachwort von René Jacques Baerlocher. Weimar: Böhlau, 2004. 516 S.

Unmittelbarer Anlass für die Veröffentlichung war die vom Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar im Jahr 1999 veranstaltete Archivalienausstellung “Der amtliche Goethe: Vom Geheimen Legationsrat zum Staatsminister in Sachsen-Weimar-Eisenach.” Mittelbar war die Veröffentlichung durch W. Daniel Wilsons [End Page 283] Goethe-Tabu (München: dtv) aus demselben Jahr motiviert. Den Ausgangspunkt zu Wilsons Goethe-Kritik stellte der Prozess gegen die Dienstmagd Johanna Catharina Höhn und die Diskussion über die Zweckmäßigkeit der Todesstrafe bei Kindsmord im Geheimen Consilium im Jahr 1783 dar. Goethes Votum für die Beibehaltung der Todesstrafe wurde dem Dichter als Votum für die Hinrichtung der Dienstmagd zu Lasten gelegt. Als Reaktion darauf kam es im Juni 2003 zu einem “Pakt” zwischen dem Herausgeber Volker Wahl und René Jacques Baerlocher, eine Dokumentenedition nebst Rezeptionsgeschichte der wichtigsten Artikel zur Rechtspflege in Sachsen-Weimar-Eisenach zwischen 1923 und 1936 vorzulegen. Das Nachwort von Baerlocher umfasst rund 270 Seiten und ist als Forschungsbericht zu betrachten, der die Sekundärliteratur von 1883–2004 aufarbeitet.

Die Dokumentenedition, die sich durch sorgfältige Kommentierung auszeichnet, liefert die Grundlage für jede weitere Diskussion des Themas. Dazu gehört eine Einführung in die Staatsform und Landesadministration in Sachsen-Weimar-Eisenach. An der Spitze stand das Geheime Consilium, dem Goethe angehörte. Es nahm die Funktion als “Landeszentralbehörde” ein und diente zur Beratung des Landesherrn, der jedoch nicht an die Abstimmung des Consiliums gebunden war. Außerdem gab es die “Regierung,” die “Kammer” und das “Konsistorium.” Die Regierung fungierte als höchste Justizbehörde, die Kammer diente als Finanzbehörde, und das Konsistorium verwaltete das Kirchen- und Schulwesen. Für Kapitalverbrechen gab es einen vorgeschriebenen Dienstweg, der im Fall Höhn genau eingehalten wurde und das Consilium nicht direkt betraf. Das Justizamt Weimar führte die Untersuchung durch und übergab das Ergebnis an die Regierung, die den Landesherrn Anfang Mai 1783 über den Fall unterrichtete. Unter Rücksendung der Untersuchungsakten ordnete der Herzog eine Sonderuntersuchung (“Spezialinquisition”) und die Ernennung eines Verteidigers an. Danach wurden sämtliche Akten an den Schöppenstuhl in Jena übersandt, um von dort ein Urteil in der Strafsache zu erhalten. Der Schöppenstuhl befürwortete die Strafe, die Angeklagte “mit dem Schwerd vom Leben zum Tode zu richten” (101). Die Regierung schloß sich dem Urteil an und übersandte die Akten zur Bestätigung des Urteils oder zur eventuellen Begnadigung an den Herzog. Dieser folgte dem vom Schöppenstuhl ausgesprochenen und von der Regierung befürworteten Urteil und bestätigte somit die Hinrichtung der Angeklagen, die am 28. November 1783 vollzogen wurde.

Im selben Zeitraum fand im Geheimen Consilium eine vom Herzog angeregte Diskussion über die Ersetzung der Todesstrafe bei Kindsmord durch eine wirksamere Bestrafung statt, zuerst Mitte Mai 1783 und dann Mitte Oktober 1783. Zu dem späteren Zeitpunkt wurden die Mitglieder des Consiliums um ein Gutachten zur Abschaffung der Todesstrafe bei Kindsmord ersucht. Die Mitglieder J. F. von Fritsch und Ch. F. Schmauß reagierten termingemäß, während Goethe sich einen Aufschub erbat. Am 5. November 1783 schloß er sich dem Urteil seiner Amtskollegen an, die für die Beibehaltung der Todesstrafe gestimmt hatten. Der von Goethe in Aussicht gestellte Aufsatz zu der Frage ist nicht überliefert. Die Dokumentenedition zeigt, dass es sich also um zwei verschiedene Vorgänge handelte, die allerdings nicht im leeren Raum stattfanden. Schmauß nahm in seinem Gutachten ausdrücklich Bezug auf den Fall Höhn. Außerdem betonte er, dass es dem Herzog “allezeit unbenommen bleibt, in ähnlichen Fällen [. . .] eine Begnadigung” auszusprechen (106). Goethes vielzitiertes “auch ich” in der Aktenniederschrift vom 25. Oktober 1783 bezieht sich auf die Aufforderung des [End Page 284] Herzogs, dass auch er seine Gesinnung zu den Akten geben sollte (103), nicht auf das Todesurteil gegen die Dienstmagd, wie einige Kritiker vermeinten.

Der von Wilson ausgegangene Gedankenanstoß führte...

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