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Reviewed by:
  • Moderne Transzendenz: Wie Goethes Wilhelm-Meister-Romane Sinn machen
  • Ehrhard Bahr
Kristina Skorniakova, Moderne Transzendenz: Wie Goethes Wilhelm-Meister-Romane Sinn machen. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2010. 423 S.

Während Werther und Wahlverwandtschaften nichts von ihrer Attraktion verloren haben, bereiten die Wilhelm-Meister-Romane unseren Studenten Schwierigkeiten. Ist es die Fülle der Realien der Theaterwelt, der Shakespeare-Rezeption, des Pietismus, der Geheimgesellschaften, der Pädagogischen Provinz, der Heimarbeit der Weber, der plastischen Anatomie, der amerikanischen Utopie, die die heutigen Leser überwältigt? Oder ist es die umstrittene Gattung des Bildungsromans, die ihre Relevanz verloren hat? Jane V. Curran hat für die Lehrjahre einen Leserkommentar auf Englisch vorgelegt, der die Lektüre erleichtern soll [End Page 276] (Rochester, NY: Camden House, 2002; Rez. Goethe Yearbook 12 [2004]: 275–77). Für deutschsprachige Leser hat Kristina Skorniakova die einzelnen Romane von der Theatralischen Sendung bis zu den Wanderjahren einer gründlichen Textanalyse unterzogen. Schon am Inhaltsverzeichnis läßt sich ablesen, dass der Schwerpunkt der Untersuchung textorientiert ist und damit die Voraussetzungen für einen Leserführer für Anfangssemester und Magisterstudenten gegeben sind. Die Inhaltsthematik der einzelnen Romane wird Buch für Buch eingehend behandelt, wie z. B. für die Theatralische Sendung: “Das Theater in der Speisekammer,” “Das Theater in Unordnung,” “Mariane und die Theaterwelt,” usw.

Doch die Autorin läßt es nicht mit einem textimmanenten Kommentar zu den Romanen bewenden, sondern ist an Georg Lukács, Jurij M. Lotman, Niklas Luhmann, Michail Bachtin und Karl Eibl orientiert, deren Theorien sie mit bemerkenswerter Klarheit zur Anwendung bringt. Dabei enfällt der Hauptanteil an Karl Eibls Transzendenzkonzept aus dessen Entstehung der Poesie (Frankfurt am Main: Insel, 1995). Seiner Ansicht nach hat die Poesie in der Moderne die Funktion der Religion in der Vermittlung einer Totalitätsgewissheit übernommen. Als Schlüsselbegriffe der drei Wilhelm-Meister-Romane untersucht Skorniakova “Genie” für die Theatralische Sendung, “Bildung” für die Lehrjahre und “Tätigkeit” für die Wanderjahre auf die Transzendenzkonzeptionen, die sie unter den Voraussetzungen der Moderne entwickeln. Sie geht davon aus, dass “das grundlegende Problem der Möglichkeit von Totalitätskorrespondenz in der Moderne [. . .] allen drei Romanen gemeinsam” ist (27). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Möglichkeiten realisiert werden. Für die Theatralische Sendung steht “die Entwicklungsfähigkeit des Theaters in Frage, und [Wilhelms] eigener Ansatz der Genialität ist weitestgehend dekonstruiert” (147). Für die Lehrjahre als Bildungsroman kommt die Verfasserin zu dem Schluss, “dass er das Modell der Erfüllbarkeit eines Bildungsideals [. . .] thematisiert, unabhängig davon, ob er es erreicht oder nicht.” Doch die Lehrjahre erreichen das Modell nicht (272). Ebenso bleibt das Modell der Tätigkeit am Ende der Wanderjahre “in ironischer Schwebe.” Die Verfasserin stellt dazu fest, dass die Schwebe “eher für eine Sehnsucht als für eine Lösungsmöglichkeit” steht. Der Text sei “beinahe postmodern, da vor allem die Tätigkeit des Lesers gefragt” sei (406).

Als Schlussfolgerung für die drei Romane verweist die Verfasserin auf das Problem der Moderne, dass Sinn sich nicht mehr machen lässt. Sinn stehe “als ungelöstes Problem der Welt zur Disposition.” Diese Erkenntnis bedeute für die Meister-Romane, dass “das Sinnmachen, die Möglichkeit des Transzendenzbezuges in der modernen Poesie [. . .] selbst in die Schwebe” gerate. Die moderne Poesie könne “die Funktion der Religion imitieren, jedoch nicht ersetzen.” Damit erweise sich das als Moderne Transzendenz definierte Phänomen charakteristisch für Goethes Wilhelm-Meister-Romane (410).

Die vorgelegte Transzendenz-These präjudiziert nicht die Textanalyse, sondern bedeutet Gewinn und Anregung für die studentische Lektüre. Vielleicht läßt sich mit dieser These erneutes Interesse für die Wilhelm-Meister-Romane erwecken. Die Aufarbeitung der Sekundärliteratur ist beeindruckend. Für die Forschung stellt der Titel eine Herausforderung zur Überprüfung der als gesichert geltenden Ergebnisse dar. Deshalb gehört Kristina Skorniakovas Buch in jede Universitätsbibliothek. Bei einer Neuauflage sind Namen-, Sach- und Werkregister zur Erleichterung der Lektüre erforderlich. [End Page 277]

Ehrhard Bahr
University of California, Los Angeles
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