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NORBERT PUSZKAR Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft Ich hörte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem Augenblick zu schaffen machen. Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurück; ich höre, daß von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden. (I, 4, 270) I So sehr auch Charakter, Inhalt und Implikationen der Gleichnisrede von der Wahlverwandtschaft umstritten sind und zahlreiche Auslegungen verursacht haben, so gibt es doch bisher keine, die untersucht hätte, inwieweit der Begriff und das soziale Faktum der Verwandtschaft Anteil haben an der Bedeutung der Gleichnisrede und den Abläufen des Romans. Hierfür verantwortlich ist sicherlich Charlottes Mißverständnis, das sie schon selbst korrigiert, indem sie es erwähnt. Als "faux départ" gekennzeichnet und schon von Anfang an negiert, scheint es, ein für allemal von jeder Sinndeutung der Gleichnisrede und jeder Interpretation der interpersoneüen Interaktionen ausgeschlossen zu sein. Dies ergibt sich jedoch nicht notwendigerweise aus Charlottes Selbstkorrektur oder aus Eduards sich daran anschließender Erklärung: "Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat" (I, 4, 270). Hielte es sich um eine Gleichnisrede im einfachen Sinne, so sollten sich für den Leser des Romans, wie für die TeUnehmer des Gesprächs aus einer Analyse des Bildes auch Aufschlüsse über den Gegenstand der DarsteUung ergeben. Das Gespräch über die Wahlverwandtschaft, das anfangs aUein über die (chemische) Verwandtschaft handelt und erst 162 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA später über Wahlverwandtschaft, kehrt aber nicht mehr zurück zu Charlottes Neffen und zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes—obwohl sonst jedes Beispiel recht und wUlkommen ist. "Verwandtschaft" scheint als Bild zu fungieren, aber nicht ein Gleichnis oder eine Analogie zu beinhalten; das Verhältnis zwischen BUd und chemischem Phänomen scheint arbiträr und daher für die Analyse nicht von Interesse zu sein. Hier werden keinerlei Beziehungen gesponnen zwischen der menschlichen Welt und den chemischen Reaktionen. Wenn die Ursache für Charlottes Mißverständnis also aUein in einer Gleichnis-Äerfe (in einem spezifischen, nicht-eigentlichen Gebrauch der Wörter) besteht, und nicht in einem Vergleich (in einer Beziehbarkeit der Gegenstände), so sollte damit von Anfang an die Gleichsetzung von chemischen mit menschlich-sozialen Verhältnissen negiert sein. Einer solchen kategorischen FeststeUung steht aUerdings Goethes Selbstanzeige des Romans entgegen, in der drei Punkte entscheidend sind für unser Verständnis der Gleichnisrede(n): 1. Wahlverwandtschaft wird als Gleichnisrede bezeichnet, die eine Darstellungsfunktion hat. 2. Die chemische Gleichnisrede stammt ursprünglich aus dem ethischen Bereich und soU in diesen wieder zurückgeführt werden. 3. Die Abgrenzung des menschlichen Bereichs der "heitern Vernunftfreiheit" wird aufgehoben in der "einen Natur."1 In der Selbstanzeige wird zwar nicht die Welt der menschlichen Individuen mit dem Bereich der chemischen Elemente gleichgesetzt, sie werden aber in Verbindung gesetzt, weil "auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen."2 Von welcher Gleichnisrede ist aber hier die Rede? Von Wahlverwandtschaft oder von Verwandtschaft? Der Text der Selbstangzeige gibt hierzu keine eindeutige Antwort. In ihm ist nur einmal vom "Titel" die Rede (das ließe auf Wahlverwandtschaft schließen), in den entscheidenden Äußerungen wird aber dann schlicht von "ethischen Gleichnissen" und "chemischen Gleichnisreden" gesprochen. Es scheint aUes dafür zu sprechen, daß hier von Wahlverwandtschaft die Rede ist, dagegen spricht aber, daß Wahlverwandtschaft ein Begriff ist, der erst in der Chemie gebildet und in seiner spezifischen Gestalt erst von Goethe durchgesetzt wurde.3 Diese "chemische Gleichnisrede" könnte also nicht zurückgeführt werden, da sie in dieser Gestalt nicht als "ethisches Gleichnis" bestand. Die Operation der Rückführung weist daher darauf hin, daß so oder so "Verwandtschaft" der "geistige Ursprung" der zuerst ethischen und dann chemischen Gleichnisrede ist. Aus diesen Gründen soUte eine Beziehung bestehen zwischen Wahlverwandtschaft und Verwandtschaft, die uns bisher entgangen ist, da sie nicht in dem Gespräch über die Wahlverwandtschaft expliziert wird. Wenn man versucht, das beiden Begriffen Gemeinsame als Abstraktion herauszuarbeiten, findet man sich schneU auf einem Holzwege Norbert Puszkar 163 wieder. Dies Gemeinsame könnte...

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