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  • Das Motorrad—Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft by Frank Steinbeck
  • Stephanie Tilly
Das Motorrad—Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft. By Frank Steinbeck. Stuttgart: Franz Steiner, 2012. Pp. 346. Paper €57.00. ISBN 978-3515100748.

Die Geschichte der Motorisierung folgte in Deutschland einem besonderen Weg. Bis zu den 1930er Jahren hatte sich Deutschland zum Motorradland schlechthin entwickelt, das auch dann noch einen ungewöhnlich hohen Motorradbestand verzeichnete, als sich in anderen Industrieländern—wie etwa in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten—das Automobil bereits auf breiter Basis durchsetzte. Die Voraussetzungen und begünstigenden Faktoren dieses „Sonderweges“ sind Gegen-stand der Studie von Frank Steinbeck, mit der seine Berliner Dissertation aus dem Jahr 2009 nunmehr in Buchform vorliegt. Damit schließt das vorliegende Buch eine oftmals beklagte Lücke der motorisierungsgeschichtlichen Forschung, die den Stellenwert des Kraftrades für den Motorisierungsprozess zwar gelegentlich streifte, jedoch bisher mit anderem Fokus betrachtete. So wurde das motorisierte Zweirad in populärwissenschaftlichen Studien als technisches Artefakt oder Kultobjekt gewürdigt, was meist einer Verkürzung der historischen Perspektive auf wenige Schlaglichter gleichkam—und in eine PS-Steigerungsgeschichte ausgewählter Motorradmodelle münden konnte, ganz im Sinne einer mit Kraft, Geschwindigkeit und Freiheit assoziierten Symbolik der Krafträder.

Zudem gerieten Motorräder in der bisherigen Forschung oft nur als Vorgeschichte der Durchsetzung des Automobils in den Blick. Als eine Ausnahme mag die Dissertation von Sasha Disko aus dem Jahr 2008 gelten, die die Bedeutung des Motorrads in soziologischer, geschlechter- und alltagsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Bislang fehlten jedoch Studien, die die Durchsetzung von Motorrädern systematisch als sozioökonomischen Prozess nachzeichneten.

Dies ist der Ausgangspunkt von Steinbecks Analyse. Der Autor möchte die „Gründe der deutschen Motorraddominanz der Zwischenkriegszeit“ (18) aufspüren. Dabei stützt sich die Studie auf eine breite Quellenbasis, wie zeitgenössische Periodika zum Motorrad- und Kraftfahrzeugwesen, Statistiken, Archivalien von Reichsministerien sowie Materialien aus den Firmenarchiven der Motorradproduzenten DKW und Zündapp. In drei chronologischen Großkapiteln wird die Rolle des Motorrads in Deutschland von der Zeit des Kaiserreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges untersucht. [End Page 192]

Der Durchbruch zum Motorradland zeichnete sich vor dem Ersten Weltkrieg trotz einer Belebung der Produktion von Motorrädern seit der Jahrhundertwende noch keineswegs ab. Gleichwohl entstanden, während zunächst das Fahrrad zum Massenverkehrsmittel avancierte, bereits vor 1914 „kulturelle Infrastrukturen der Motorisierung“ (44), wie die zunehmende Beliebtheit von Motorrad- und Automobilclubs, Motorsportveranstaltungen und Motorpublizistik erkennen ließ. Wenn auch das Motorradgeschäft erst in der Zwischenkriegszeit eine sichtbare Belebung erfuhr, negiert Steinbeck die These, der Weltkrieg sei ein „Schrittmacher der Motorisierung“ (72) gewesen. Vielmehr habe der Krieg die technische Entwicklung im Motorradbau blockiert und damit auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Motorradindustrie nach 1918 beeinträchtigt. In den frühen 1920er Jahren war zunächst der inflationär aufgeblähte Motorradmarkt mit zahlreichen neuen Anbietern und einem explodierenden Anstieg der Motorradmarken von 48 auf 386 zwischen 1920 und 1924 charakteristisch (86). Aber erst seit der Mitte der 1920er Jahre—nach der Währungsstabilisierung und der anschließenden Bereinigung verzerrter Marktstrukturen—wuchsen die Bestände von motorisierten Krafträdern so dynamisch, dass Motorräder „die Führungsrolle bei der Motorisierung“ (91) übernahmen. Es gehört zu den Stärken des Buchs, die Kraftfahrzeughaltung differenziert zu rekonstruieren und Unterschiede in der Verbreitung verschiedener Kraftfahrzeugtypen im Hinblick auf die Käuferstruktur, den Verwendungszweck und regionale Gegebenheiten transparent zu machen.

Dabei wird klar, welcher Faktor die massenhafte Nutzung von motorisierten Kraftfahrzeugen, vor allem Automobilen, limitierte und damit auch den im Vergleich zu England, Frankreich oder USA zögerlichen Verlauf der Motorisierung in Deutschland prägte: Der Besitz eines Kraftfahrzeuges war angesichts der hohen laufenden Haltungskosten ein kostspieliges Projekt, das sich weite Teile der Bevölkerung angesichts des vergleichsweise niedrigen Einkommensniveaus nicht leisten konnten. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen spielten eine wichtige Rolle. Steinbecks Studie legt dar, wie die Kraftfahrzeugpolitik der Weimarer Republik durch steuerliche Erleichterungen, Führerscheinfreiheit und verkehrsrechtliche Bestimmungen die Verbreitung von Krafträdern begünstigte. Insgesamt liefen die politischen Weichenstellungen auf eine Förderung des Kleinkraftrades oder des Motorfahrrades hinaus, die zu den preisgünstigsten Modellen zählten. Im Jahr 1933 machten Kleinkrafträder mehr als die Hälfte (56%) des...

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