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  • After Jena: Goethe’s “Elective Affinities” and the End of the Old Regime
  • Franz R. Kempf
After Jena: Goethe’s “Elective Affinities” and the End of the Old Regime. By Peter J. Schwartz. Lewisburg: Bucknell University Press, 2010. Pp. 358. Cloth $75.00. ISBN 978-0838757192.

Über der vorliegenden Studie könnte als Motto Goethes bekannte Aussage zur Ästhetik der Wahlverwandtschaften stehen: „Kein Strich, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden“. P. J. Schwartz lotet die von Goethe angesprochene „Naturwirklichkeit“ bis ins letzte Detail aus, um am Schluss dann aber, ganz im Sinne Goethes, der „Kunstwahrheit“ den Vorzug zu geben: „If the world in his book is a world in collapse, the book itself is a paragon of aesthetic order“ (229–30).

Das Spektrum der „Naturwirklichkeit“ reicht vom 1804 eingeführten Code Napoléon zum Tableau vivant von van Dycks blindem Belisar, vom Englischen Garten zu Dominique Vivant Denons numismatischer Geschichte napoleonischer Medaillen und Münzen, von Rousseaus Nouvelle Héloïse zum aufklärerischen—das heißt: aus Spinoza und Kant entwickelten—Schicksalskonzept. Unter Einbezug dieses breitgefächerten Zeitgeistes setzt Schwartz sich ab von gängigen ethischen und metaphysischen Interpretationen. Stattdessen liest er die Wahlverwandtschaften als Versuch Goethes, sich im Medium der Literatur mit der tiefgehenden Krise auseinanderzusetzen, die 1806 mit Napoleons Sieg über Preußen bei Jena-Auerstedt ihren Höhepunkt erreicht: die Auflösung der alten und die Einführung und Legitimierung einer neuen Ordnung. So ist zum Beispiel die Ehekrise nicht bloß Ausdruck daimonischer Egomanie, sondern auch Ausdruck reformatorischer Gesetzgebung bezüglich [End Page 402] Heirat, Grundbesitz und Erbschaft. Mit Napoleon, der im Roman nur als positives Abziehbild von Eduard „präsent” ist, erfährt die Vorstellung eines unausweichlichen Schicksals eine politische und charakterologische Modifizierung, weil bei ihm Macht nicht mehr von Gottes Gnaden, sondern, neben der Fortüne, auch von persönlicher Kompetenz und Leistung legitimiert wird. Teil der post-Jenaischen Krise ist die Vorliebe für den Englischen Garten. Mit seiner im Gegensatz zum Französischen Garten als befreiend empfundenen „Natürlichkeit“ ist der Englische Garten vielleicht das zentrale Motiv des Romans. Hier greift Schwartz’ Untersuchung zu kurz. Denn bedeutend ist—in Bezug auf die Natur- und Sittengesetz-Problematik, aber auch über sie hinaus—dass Goethe ihn am Ende verwildern lässt, weil für ihn das zur Willkür verkommende Spielerisch-Hybride das Erhabene der Natur aufhebt und die Synthese von Kultur und Natur bloßer Schein und nicht Symbol ist.

Die Analyse von Ottilies und Julies Sterbebettszenen weitet Schwartz aus zu einem Vergleich von Klassik und Romantik. Während bei Rousseau die Sublimierung trotz beziehungsweise dank der Selbstaufopferung funktioniert, ist sie bei Goethe, als Entsagung, handlungslogisch vergeblich, dafür aber (rezeptions)ästhetisch von großer Bedeutung: „As an image[,] Ottilie’s final tableau does reconcile the tensions . . . not by ridding us in some way of the violent emotions or tensions the work depicts but by setting them into a formal—an aesthetic—equilibrium“ (229). Rousseaus „romantischer“ Wirkungsästhetik steht somit Goethes „klassische“ Reflexionsästhetik gegenüber, der Ethik des Affekts die Ethik der Form.

So beeindruckt man ist von Schwartz’ feinem Gespür, mit der er der „erlebten“ Wirklichkeit in den Wahlverwandtschaften nachgeht, so überrascht ist man, dass er bei der nuancierten Untersuchung ihrer literarischen Verarbeitung Goethes selbstkritische Ironie zwar zur Sprache bringt, ihre Bedeutung für die „Kunstwahrheit“ aber nicht konsequent zu Ende denkt. Spätestens seit Hermann und Dorothea scheint Goethe den Triumph der Kunst zu ironisieren—wenn auch auf subtile Weise, etwa in dem einen holprigen Chorus-mysticus-Vers am Ende des Faust.

Franz R. Kempf
Bard College
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