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  • Spiele des (Un)Sichtbaren: Performativität und Politik der Wahrnehmung im argentinischen Gegenwartstheater by Johanna Dupré
  • Christine Felbeck
Johanna Dupré . Spiele des (Un)Sichtbaren: Performativität und Politik der Wahrnehmung im argentinischen Gegenwartstheater. Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft ; Bd. 19. Marburg : Tectum-Verlag , 2010 , 246 Seiten.

Im Jahr 2010 ist die weltweit größte Buchmesse in Frankfurt dem Ehrengast Argentinien gewidmet. Neben zahlreichen Großveranstaltungen zu den literarischen Aushängeschildern des Landes von Borges und Cortázar und ihren epischen Nachfahren wie etwa Martín Kohan, Alan Pauls und Samanta Schweblin ist auch der zeitgenössischen Dramatik ein kleiner Programmfokus vorbehalten. So repräsentieren Lola Arias und Rafael Spregelburd stellvertretend für die junge Auto-rengeneration die sogenannten Neuen Tendenzen (auch teatro joven, teatro del off oder teatro experimental genannt) argentinischer Gegenwartsdramatik in Diskussionen, Lesungen und der spanischsprachigen Inszenierung von Arias’ Theatertext Mi vida después im Frankfurter Mousonturm. Die beiden teatristas – Begriff für die in Argentinien häufige Personalunion von Autor, Regisseur und Schauspieler – figurieren damit als Exportschlager einer bislang nur marginal beleuchteten Theaterszene, deren Vitalität mit über 150 Aufführungen an einem Samstagabend in Buenos Aires jedoch ihresgleichen sucht.

Diesem Forschungsdesiderat begegnet die Mainzer Theaterwissenschaftlerin Johanna Dupré mit ihrer auch auf der Buchmesse ausgestellten Studie zur Performativität und Politik der Wahrnehmung im argentinischen Gegenwartstheater.In der von Kati Röttger betreuten Arbeit entwirft Dupré ein Konzept zur Beschreibung und adäquaten Analyse dieser Neuen Tendenzen seit den 1980/90er Jahren, mit dem sie deren Kategorisie-rung als unpolitisches, hermetisches und rein formal ausgerichtetes Theater entschieden entgegentritt. Diese gängige These einer Krise des Theaters (Kap. 2.2.1) erklärt Dupré schlüssig im Kontext der argentinischen Theatertradition (Kap. 2.1), in der das Ideal eines sozialkritisch-realistischen Theaters mit eindeutigen Botschaften, das im politischen Theater der 1960/70er Jahre – insbesondere im teatro abierto – seine Ausprägung fand, immer noch den wichtigsten Referenzpunkt darstellt.

Das Theater der Neuen Tendenzen bricht jedoch mit dieser Tradition, so dass ausgehend von Federico Irazábal ein neues Konzept politischen Theaters etabliert werden muss (Kap. 2.2.3). Dabei ist zudem ein an Jorge Dubatti orientiertes performatives Theaterverständnis grundlegend (Kap. 2.2.2), denn das Politische liegt nach Spregelburd nunmehr weniger in Themen und Inhalten, sondern im Produktionsmodus. Im Sinne eines erweiterten Theaterbegriffs erfolgt der Prozess der politischen Bedeutungszuschreibung erst im Akt der Rezeption als aisthetische Erfahrung des Zuschauers und ist keine Entschlüsselung einer a priori formulierten Botschaft mehr. Das Theater der Neuen Tendenzen wird nach Dubatti so zum Ort,

der durch die im convivio erlebten Erfahrungen einen Raum für die Konstitution einer alternativen Subjektivität eröffnet und einen Gegenpol zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Strömungen [d. h. dem Alltagsraum] bilden kann

(36).

Nach Irazábal dekonstruiert es als zentrale politische Handlung die dominante Version der Wirklichkeit, indem beim Zuschauer neue Sichtweisen provoziert werden: mirar de nuevo (42).

Mit ihren Ansätzen zu einer Ästhetik des Performativen und der Beschreibung des Theaters als Erfahrung und Ereignis liefern Dubatti, Irazábal und Spregelburd ein anschlussfähiges Konzept, auf das Dupré für ihr Denkmodell einer Politik der Wahrnehmung aufbaut. Dieses konturiert sie in einem zweiten Schritt mit phänomenologischen Theorien von Jacques Rancière, Bernhard Waldenfels und Dieter Mersch zum Vorgang der Wahrnehmung und des Wahrnehmungsgeschehens (Kap. 3). Dupré kommt so zu der erweiterten Definition, dass das Theater der Neuen Tendenzen [End Page 213]

ein performatives, spielerisches [ist], dass [sic] keine klaren Botschaften übermittelt [sic] sondern Ereignisse sinnlich erfahren lässt. Es ist wirklichkeitskonstituierend, indem es ein raum-zeitliches Sensorium kreiert, das von den normalen Bedingungen der sinnlichen Erfahrung und den sie strukturierenden Hierarchien losgelöst ist. Dabei kann es gerade durch seine Position an der Peripherie einem [sic] Erfahrungsraum erzeugen, der für die Zeit seiner Existenz eine andere, alternative Aufteilung des Sinnlichen aufscheinen lässt, die mit jener, die die Wahrnehmung der Alltagsrealität strukturiert, in Konflikt tritt.

(91)

Die Politizität liegt in den erzeugten Konflikten und Dissensen (Rancière, 73), die als sinnliche Grenz- und Fremdheitserfahrung bzw. Blickstö-rung in der Wahrnehmung des Publikums stattfinden und in der Transzendierung des Theater-rahmens ein Anderssehen bewirken (Waldenfels, 84). Diesen Erfahrungen muss der...

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