In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

EIN FEHLTRITT IM OCKHAMS EMPIRISMUS? Über eine Stelle des 'Breviloquiums' I. Einleitung: Metaphysik und Politik 1943 setzte sich Ph. Boehner mit A. Dempfüber die Beziehungen zwischen der Ockhamschen Metaphysik und Politik auseinander. Dempf deutete an, daß erstere notwendigerweise in einen Traditionalismus ausmündet, welcher, gestützt auf die Autorität der Bibel und der theologischen und kanonistischen Tradition, sich über die Entscheidungsgewalt des Papstes stellte und somit die theoretischen Grundlagen des staatlichen Absolutismus schuf.1 Boehner dagegen lehnte jede Möglichkeit, die Politik Ockhams auf seine Metaphysik zu begründen, ab und beurteilte jede Kontinuität zwischen beiden als abenteuerlich.2 Ziel dieses Aufsatzes ist, die Stellungnahme Boehners zu bestätigen, auch wenn in einem anderen Sinne und von einem ganz von der damaligen Auseinandersetzung unterschiedlichen Gesichtspunkt her: während für Boehner der Abstand zwischen Metaphysik und Politik bei Ockham sich darin befindet, daß der Ausgangspunkt seines politischen Denkens nicht in seiner Metaphysik sondern nur in seiner Auffassung in Bezug auf die Grenzen der päpstlichen Macht zu sehen ist,3 verschärft sich unserer Meinung nach jene Unterbrechung aufGrund der von Ockham durchgeführten Anpassung der Eigentümlichkeit der geschichtlichen Geschehnisse an die 1 Cf. Alois Dempf, Sacrum Imperium (München-Berlin, Oldenburg, 1929) 509 f. 2 "an adventure and certainly as a construction of the writer," cf. Philoteus Boehner, "Ockham's Political Ideas," The Review ofPolitics, 5 (1943) 465. 3 Cf. Boehner, 465. 228C. FRANCISCO BERTELLONI Rationalität seiner politischen Lehre. Leitfaden unserer Analyse sind die auf die donatio Constantini bezogenen Stellen4 des Breviloquiums.5 Hiervon ausgehend werden wir zu zeigen versuchen, daß während der Kern der Ockhamschen Metaphysik die notitia intuitiva als empirische Angabe des Individuellen ist, der Politiker Ockham dagegen der Verlockung , sich an das Individuelle zu halten, widersteht und dieses einem allgemeinen und rationellen Gesetz unterwirft. Dieser Vorrang des Abstrakten vor dem Konkreten rührt von der Wahl einer Methode her, die sich in zwei Momente gliedert. Erstens macht Ockham eine Exegese der Bibel—d.h. der Instanz, die für ihn die ideale, wahre und objektive Ordnung bildet—und auf dieser Basis formuliert er ein rationales Gesetz über die Legitimität der politischen Gewalt, dessen Gültigkeit auf seinem biblischen Ursprung beruht. Zweitens unterwirft er dem obengenannten Gesetz jene geschichtlichen Tatsachen, die von seiner politischen Lehre abweichen; zu diesem Zweck modifiziert Ockham die Geschichte, indem er ihre Faktizität zurücksetzt und die Rolle, die in seiner Metaphysik die notitia intuitiva des Individuellen spielte, durch die umfassende Macht des rationalen Systems ersetzt. In Bezug aufseinen Empirismus bedeutet dieses Verfahren eine schwere Inkonsequenz, auf die sich der Titel dieses Aufsatzes mit dem Ausdruck "Fehltritt" bezieht. II. KURIALISTISCHE AUSLEGUNG DER DONATIO Im allgemeinen behaupteten die Kurialisten, daß die päpstlichen Ansprüche in temporalibus sowohl aufjuristischer wie auch auffaktischer Basis (de iure und de facto) beruhten, welche den Papst als den legitimen Träger der potestas temporalis erscheinen ließen. Während die juristische Basis auf die plenitudo potestatis Petri und seiner Nachfolger bezogen wurde, kennzeichnete man die donatio Constantini als die faktische Basis. Damit ergänzten sich beide Grundlagen so harmonisch und paßten 4 Cf. unseren Aufsatz " 'Constitutum Constantini' y 'Romgedanke.' La donación constantiniana en el pensamiento de tres defensores del derecho imperial de Roma: Dante, Marsilio y Guillermo de Ockham (fin)," Patrística et Mediaevalia, VI (1985) 53 ff. wo wir uns mit der Ockhamschen Auslegung der donatio im gesamtem Werk Ockhams beschäftigt haben. 5 Ich zitiere B und Seite der Baudrys-Ausgabe. Ein Fehltritt in Ockhams Empirismus?229 sich so leicht aneinander an, daß die donatio als die Bestätigung eines Rechtes innerhalb der Geschichte erschien, das dem Papst über die Zeit hinaus zugehörte. Infolgedessen hatte der Papst die potestas temporalis , zumindest de iure, bevor die donatio dieses ius faktisch bestätigte, d.h. bevor sie als geschichtliches Faktum stattfand. Trotzdem gab es in den Kurialistenreihen verschiedene Auslegungen der donatio. Für Tolomeo de Lucca bildete sie eine Übergabe der Herrschaft, d.h. ein Faktum, womit die Providenz ein ius bestätigen wollte, das dem Papst de iure und unabhängig von jeder geschichtlichen Tatsache zukam, d.h. bevor die donatio in der Geschichte stattfand.6...

pdf

Share