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V Zwischen Intellektualismus und Voluntarismus: Die scholastische Debatte um die Willensschwäche im 13. Jahrhundert Die scholastischen Diskussionen zur Willensschwäche bilden den Abschluss und auch den Kulminationspunkt dieser Arbeit, insofern hier die beiden historischen Stränge der Diskussion zusammenfließen, die wir bisher kennengelernt haben: die ἀκρασία-Debatte der griechischen Antike und die christliche Diskussion im Anschluss an Paulus und Augustinus. Der historische Bedingungsfaktor hierfür ist der Wiedereintritt des siebten Buchs der Nikomachischen Ethik in den lateinischen Westen. Damit ist keineswegs gesagt, dass der scholastische Problemkontext wesentlich als ein rezeptionsgeschichtlicher zu sehen ist, dessen Beitrag sich auf eine Kommentierung der aristotelischen ἀκρασία beschränkt. Wie sichtbar werden wird, ist deren Aufarbeitung zwar ein integraler Bestandteil der scholastischen Debatte zum Phänomen der Willensschwäche, aber nicht deren eigentlicher problemgeschichtlicher Kern: Dieser führt über das Verständnis von NE VII weit hinaus in die Kontroversen zwischen „Intellektualisten“ und „Voluntaristen“, wie sie etwa ab 1270 nachweisbar sind.1 Dass das Problem der Willensschwäche in diesen scholastischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielt, ist aber durchaus den vorherigen Versuchen der Interpretation bzw. Aneignung der aristotelischen ἀκρασία geschuldet, die ab 1250 beginnen. Hier hat die Darstellung folgerichtig einzusetzen. V.1. dIe rezeptIoN der NikomachiScheN ethik als ausgaNgspuNkt der dIskussIoNeN Der Wiedereintritt größerer Teile des Corpus Aristotelicum in den lateinischen Westen ist sicherlich ein zentraler, wenn nicht gar der bedeutendste Einfluss1 Vgl. die kritischen Anmerkungen von Stone 2001 und 2004 zu dieser Terminologie. Auch wenn solche „Etiketten“ grundsätzlichen den Nachteil mangelnder Trennschärfe haben und zu Idealtypisierungen neigen, sind sie manchmal hilfreich, um ein ansonsten in seiner historischen Divergenz kaum überschaubares Untersuchungsfeld ansatzweise zu strukturieren. Die Unterscheidung von „Intellektualismus“ und „Voluntarismus“ scheint mir durchaus ein nachweisbares historisches Fundament in der Sache zu besitzen, weshalb ich zukünftig unter Verzicht auf die Anführungszeichen auf sie rekurriere. 498 teIl V faktor für die Gestaltung der scholastischen Diskussionen in den sich seit 1200 formierenden Universitäten in Europa. Waren es im 12. Jahrhundert noch nahezu ausschließlich die logischen Schriften des Organon, durch die Aristoteles im geistigen Leben der Zeit präsent war, sind es im 13. Jahrhundert v.a. seine libri naturales, also die naturwissenschaftlichen Schriften, die durch lateinische Übersetzungen – teils aus dem Griechischen, teil aus dem Arabischen – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Die Problematik ebenso wie die Dynamik dieses Aneignungsprozesses zeigt sich nicht zuletzt in verschiedenen Lehrverboten (z.B. 1210, 1215 und 1231) für einzelne Schriften des Corpus Aristotelicum, das z.B. in Paris erst ab 1255 in Gänze zum Lehrbetrieb an der Artistenfakultät frei gegeben wurde.1 Die ethischen Schriften des Aristoteles, allen voran die Nikomachische Ethik, waren von diesen Verboten zwar nicht direkt betroffen, lagen aber ohnehin bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts nur in Teilübersetzungen vor: Der im Universit ätsbetrieb benutzte sogenannte Liber Ethicorum umfasste die Ethica Nova (NE I) sowie die Ethica vetus (NE II-III); daneben existierten noch einige eher fragmentarische Überlieferungen wie etwa die Ethica Borghesiana (Auszüge aus NE VII-VIII) und die Ethica Hoferiana.2 Aus der Artistenfakultät sind einige Kommentare zur Ethica Nova und Ethica Vetus erhalten geblieben, die allerdings verdeutlichen , dass die restlichen Bücher offensichtlich nicht bekannt waren.3 Die erste Vollübersetzung der Nikomachischen Ethik erfolgt jedenfalls erst 1246/47 durch Robert Grosseteste, den Bischof von Lincoln:4 Erst mit dieser translatio Lincolniensis betritt die aristotelische ἀκρασία-Diskussion wieder die Bühne unserer Problemgeschichte der Willensschwäche. V.1.1. Die translatio Lincolnienis und das lateinische Schrifttum zu NE VII um 1250 Mit der translatio Lincolnienis lag – nach den Auszügen in der Ethica Borghesiana – nun der vollständige Text des siebten Buchs der Nikomachischen Ethik erstmalig in lateinischer Übersetzung vor. Auch wenn jede Übersetzung eine Interpretation ist, kann man im vorliegenden Fall nicht behaupten, dass durch Grossetestes Übertragung wichtige exegetische Fragen im Blick auf den aristotelischen Text präjudiziert gewesen wären: Infolge Grossetestes wörtlicher Übersetzungstechnik 1 Vgl. hierzu die immer noch einschlägigen Darstellungen bei Van Steenberghen 1955 u. 1991. 2 Umfassend informiert über diese Zusammenhänge der erste Teilband der Aristoteles Latinus-Ausgabe [=AL] der Nikomachischen Ethik von Gauthier. Eine gute Zusammenfassung bietet Wieland 1982. 3 Vgl. hierzu die einschlägige Untersuchung von Wieland 1981. Kritische Editionen der entsprechenden Texte liegen mittlerweile vor oder sind im Gange. Keiner dieser Texte bietet interessantes Material für die aristotelische ἀκρασία-Diskussion. 4 Vgl. Callus 1947. [3.140.185.170] Project MUSE (2024-04-20 00:27 GMT) IntellektualIsmus unD VoluntarIsmus: DIe scholastIsche Debatte 499...

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