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II Leidenschaftliche Begierde contra Vernunft: Die ἀκρασία-Debatte der klassischen Antike Wo beginnt eine Problemgeschichte? Trivialerweise und dennoch unausweichlich dort, wo eine Sache zum ersten Mal explizit zum Problem wird. Dies kann im Werk eines einzelnen Denkers geschehen, der ein vorher gänzlich unbekanntes Problem entdeckt oder eine zwar bereits bekannte, bis dahin aber unkontroverse Thematik zum Problem erhebt. Doch gerade die Geschichte der Philosophie ist ein Fundus an Beispielen, bei denen ein Problemzusammenhang wesentlich durch den kritischen oder gar polemischen Dialog zweier Parteien konstituiert wird. Die Problemgeschichte der Willensschwäche scheint nun ein solcher Fall zu sein, denn sie beginnt bei näherem Hinsehen mit dem „alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung“.1 Ebenso, wie man die Entwürfe der antiken Ethik in toto als eine Reaktion auf die Herausforderung durch das Weltbild der griechischen Tragödie (mit ihrer Betonung der Machtlosigkeit menschlicher Planung gegen- über Schicksal und Zufall) verstehen kann,2 ist auch hier eine solche Sichtweise möglich. Die beiden Protagonisten dieses Streits, aus dem das ἀκρασία-Problem der klassischen griechischen Antike hervorgeht, sind Sokrates und Euripides; mit einer Darstellung des Letzteren möge deshalb der Vorhang für den Prolog unseres Schauspiels gehoben werden. II.1. Prolog: dIe herausForderungen des eurIPIdes Das Bild des Tragödienschreibers Euripides, das im Rahmen der älteren geistesund ideengeschichtlichen Forschung gezeichnet wurde, ist weitgehend davon geprägt, dass man ihn „nicht als Dichter betrachtet, sondern als Denker und Philosoph“.3 Diese Einordnung ist übrigens nicht von vorneherein der heillosen anachronistischen Rückprojektion verdächtig: Bereits verschiedene antike Autorit äten bescheinigen Euripides eine ausgeprägte Affinität zur Philosophie,4 die ihren 1 Platon, Rep. 607b. 2 Vgl. hierzu Nussbaum 2001. 3 Schadewaldt 1992, 324. 4 Vgl. Dodds 1929, 97: Euripides habe Philosophie studiert, bevor er zum Theater kam, und sei freundschaftlich mit Anaxagoras, Sokrates, Protagoras und Prodikos verbunden gewesen. 48 teIl II Niederschlag wohl auch in einem entsprechenden Spitznamen fand: Die Athener sollen ihn den „Theaterphilosophen“ genannt haben.1 Welche Art von Philosophie er dabei vertreten hat, ist jedoch Gegenstand höchst kontroverser Einschätzungen : Am einen Ende des Spektrums steht Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Euripides als einen „Rationalisten“ porträtiert, der Hand in Hand mit Sokrates der vom dionysischen Geist beseelten alten Trag ödie den Garaus gemacht habe.2 Am anderen Ende finden wir E.R. Dodds, dessen Aufsatztitel „Euripides the Irrationalist“ Programm ist: Hier opponiert Euripides gegen jede Art von Rationalismus, ob sich dieser nun der sophistischen „Aufklärung “ oder dem Sokratismus verdankt.3 In beiden Fällen ist die Deutung unverkennbar den zugrundeliegenden „starken Wertungen“ der Interpreten geschuldet – bei Nietzsche steht seine Lebensphilosophie, bei Dodds ein nicht zuletzt die eigene Zeit betreffender Kulturpessimismus im Hintergrund –, die sich aber bei aller Kontrarietät in einem Punkt berühren: Im Blick auf die philosophischen Ambitionen des Euripides ist primär Sokrates die geeignete Deutungsfolie, ob nun als Antagonist oder als Waffenbruder.4 Die Möglichkeit eines regelrechten intellektuellen Dialogs zwischen diesen beiden Zeitgenossen ist nun speziell im Blick auf die ἀκρασία-Thematik verschiedentlich erörtert worden: B. Snell hat angenommen, dass sich bestimmte Passagen bei Euripides am besten als eine direkte Kritik an der sokratischen These vom Tugendwissen deuten lassen, indem akratisches Handeln wider besseres Wissen als Beleg gegen diesen Intellektualismus vorgeführt wird; auf diese Herausforderung habe dann seinerseits Sokrates mit der Leugnung der Möglichkeit akratischen Handelns im Protagoras reagiert.5 Bei aller quellentechnischen Problematik einer solchen Rekonstruktion6 ist ihre Grundidee auch in der jüngeren Forschung, z.B. 1 Vgl. Vitruvius, De architectura VIII, praef. § 1, p.132: „Euripides, auditor Anaxagorae, quem philosophum Athenienses scaenicum appellaverunt.“ 2 Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, v.a. 137-147, der Euripides als „Dichter des ästhetischen Sokratismus“ präsentiert, dem „der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Genießens und Schaffens“ galt (ebd., 142). Das oberste Gebot des ästhetischen Sokratismus lautet nach Nietzsche: „ ,alles muss verständig sein, um schön zu sein’, als Parallelsatz zu dem sokratischen ‚nur der Wissende ist tugendhaft’.“ (ebd., 145) Bei Nietzsche wird Euripides somit zum indirekten Verfechter des Tugendwissens und Sokrates zum einzigen echten Zuschauer des Euripides. 3 Vgl. Dodds 1929 u. 1951, v.a. 186-188. Die Titelwahl ist ein Kontrapunkt zu Verrall 1913: „Euripides the Rationalist”. 4 Diese bereits in der Antike betonte Affinität der beiden spiegelt sich etwa darin, dass Euripides in der Sokrates-Vita bei Diogenes Laertios nicht weniger als fünf Mal erwähnt wird: DL II 18.22.33.44...

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