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die entstehung der musiKaLischen geschichte. historisierung und ästhetische Praxis am beisPieL Josquins Laurenz Lütteken historisierung der musiK Zu den Auffälligkeiten der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart gehört der Umstand, dass es wohl ein Lemma „Musikgeschichtsschreibung “ gibt, nicht aber eines zur „Musikgeschichte“.1 Damit ist zwar einem Umstand Rechnung getragen, den schon Ranke und Droysen trennte, nämlich der Vorstellung, dass Geschichte nicht einfach da ist, wie Ranke glaubte, sondern, mit Droysen, ein Konstrukt erst ihres Interpreten.2 Wenn auch Droysen selbst bezweifelte, dass dieses Modell für eine Geschichte der Kunst überhaupt tauglich sein könne,3 so stellt sich dennoch die Frage, woraus sich unter diesen Prämissen eine ‚Geschichte der Musik’eigentlich zusammensetzt und wie jene ‚Tatsachen’ beschaffen sind, die sie konstituiert.4 Entscheidend sind dafür einerseits jene historiographischen Positionsbestimmungen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert und, im Blick auf die Musik, besonders problematisch und umstritten vorgenommen werden.5 Andererseits ist damit aber durchaus ein pragmatischer Aspekt verbunden, nämlich die auf den ersten Blick einigermaßentrivialanmutendeFrage,abwannsicheigentlicheine‚Geschichte der Musik’ konstituiert, ab wann also das Musikalisch–Vergangene überhaupt als ein Vergangenes wahrgenommen worden ist. Schon Herder nahm gerade das sperrige Verhältnis der Musik gegenüber der wahrnehmbaren Welt zum Anlass, gewissermaßen die Grenzen von Geschichte, deren, mit Thomas 1 Dieser Befund trifft auch das New Grove Dictionary of Music and Musicians, sowohl in der Auflage von 1980 wie der von 2001. Auch dort gibt es einen Eintrag „Historiography“, aber keinen „History“. 2 Vgl. dazu Otto Gerhard Oexle, „Von Fakten und Fiktionen. Zu einigen Grundsatzfragen der historischen Erkenntnis“, in Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung (Köln, 2003), 1–42; auch Alexandre Escudier, „De Chladenius à Droysen. Théorie et méthodologie de l’histoire de langue allemande (1750-1860)“, Annales, 58 (2003), 743–77. 3 Dazu Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte (Köln, 1977), 60ff. u. passim. 4 Dazu grundlegend Hans-Joachim Hinrichsen, „Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk . Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung“, in Verf. (Hg.), Musikwissenschaft . Eine Positionsbestimmung, Kassel 2007, 67–87. 5 Merkwürdigerweise reichen selbst die anspruchsvollsten methodischen Selbstvergewisserungen kaum hinter das späte 18. Jahrhundert zurück (Dahlhaus, Grundlagen, 91ff.). laurenz lütteKen 164 Mann zu sprechen, frühestes Morgengrauen in den Blick zu nehmen.6 Dabei war ihm daran gelegen, jenseits dieser Grenzen gleichsam das Wesen der Musik und der Sprache zu ergründen. Andererseits ließe sich aber, sehr viel bescheidener, auch fragen, wo denn diese Grenzen überhaupt liegen, wann und wie die Musik in die Sphäre der Geschichtlichkeit eingetreten ist. Unabhängig also von dem Problem, wie jene ‚Tatsachen’ beschaffen sein könnten, aus deren Reihung sich Musikgeschichte bildet, soll es hier um das Problem der bewussten Wahrnehmung von Vergangenem in der Musik gehen – und um die Konsequenzen, die sich aus diesem Umstand ergeben. Wahrnehmung schafft zugleich Distanz, die Distanz des Gegenwärtigen zum Vergangenen.DieseDistanzerweistsichimHinblickaufdieMusikalsbesonders kompliziert, weil diese auf eine grundsätzliche Weise der Zeitlichkeit unterliegt und erst relativ spät zur materialisierten Form der Schriftlichkeit gefunden hat. Überdies ist das Verhältnis dieser Schriftlichkeit zur klingenden ‚Wirklichkeit’ von Musik stets widersprüchlich, spannungsvoll und vielschichtig gewesen, so dass beides, Klang und Schrift, niemals eine wirklich störungsfreie Einheit im Sinnedessenbildenkonnten,wasinderHistoriographieseitdem19.Jahrhundert ‚Quelle’genannt wird.7 Bewußtsein über eine historische Distanz schließt aber zugleich jene Faktoren weitgehend aus, die, um mit Maurice Halbwachs zu sprechen, als Bestandteil eines ‚kollektiven Gedächtnisses’ gelten können.8 Schon Aby Warburg hatte, bezogen auf Prozesse der Bildfindung, im Begriff der ‚Pathosformel’ solche Prozesse der kulturellen Codierung folgenreich namhaft gemacht.9 Sie prägen auch, allerdings viel zu selten und viel zu wenig systematisch reflektiert, den Umgang mit Musik. Ab einem gewissen Moment müssen derartige Codierungen überlagert worden sein von der bewussten, distanzierenden Wahrnehmung von Musik der Vergangenheit und damit von der willentlichen Auseinandersetzung mit ihr. Eine derartige Wahrnehmung bedarf zwar notwendig der schriftlichen Fixierung, doch beschränkt sich diese keineswegs auf das begriffliche Raisonnement über Musik, es existiert gleichfalls in der unbegrifflichen Musik selbst. 6 Vgl. hier etwaAndreas Käuser, „Der anthropologische Musikdiskurs. Rousseau, Herder und die Folgen“, Musik und Ästhetik, 4 (2000), 24–41. 7 Vgl. hier Otto Gerhard Oexle, „Was ist eine historische Quelle?“, Die Musikforschung, 57 (2004), 332–50. 8 Maurice Halbwachs, „La mémoire collective chez les musiciens“, Revue philosophique, 64/127 (1939), 136–65. 9 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Götz Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik...

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