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[1] Kanonisches Recht und Busspraxis Zu Kontext und Funktion des Paenitentiale Excarpsus Cummeani Ludger Körntgen n Die Entwicklung der kirchlichen Busspraxis im frühen und hohen Mittelalter bietet ein Beispiel für das differenzierte und wechselseitige Verhältnis von geschriebenem Recht und Rechtspraxis. Obwohl seit der Spätantike klare Normen schriftlich fixiert waren, die ein allgemeines kirchliches Verfahren unter Kontrolle der Bischöfe regelten, entwickelte sich ausgehend von Irland und dem irisch beeinflussten England eine Praxis, die sich weitgehend am Beispiel der monastischen Disziplin orientierte und das Bekenntnis gegenüber dem Priester sowie die Zuteilung bestimmter Bussauflagen durch diesen in den Mittelpunkt stellte.1 Das monastische Vorbild führte dazu, dass Busse jetzt für kleinste Nachlässigkeiten des täglichen Lebens geleistet werden konnte; weil zugleich aber auch Kapitaldelikte wie Mord, Raub oder Ehebruch nach gleichem Schema gebüsst werden konnten, kam es zu einem Neben-, Mit- und Gegeneinander der neuen und der tradierten Busspraxis, das durch die karolingische Unterscheidung und Zuordnung von ‘öffentlicher’ und ‘geheimer’ Busse eher abstrakt-systematisch als in der konkreten Praxis geklärt wurde und das noch bis weit ins 11. Jahrhundert hinein die kirchliche Busspraxis Europas bestimmte.2 Mit Kanon 21 des vierten Laterankonzils (1215) wurde dann eine Praxis in das universalkirchliche Recht integriert, die sich neben 17 1. Cf. C. Vogel, ‘Busse (Liturgisch-Theologisch) D I [2]’, LMA 2 (1983) 1131–35; K. Hoheisel, ‘Busse I.’, LThK3 2 (1994) 824–25; L. Körntgen, ‘Kirchenbusse’, Reallexikon für germanische Altertumskunde2 16 (2001) 561–64. 2. Cf. R. Kottje, ‘Busspraxis und Bussritus’, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale (Settimane 32; Spoleto 1987) 369–95; S. Hamilton, The Practice of Penance, 900–1050 (Woodbridge and Rochester, NY 2001); L. Körntgen, ‘Fortschreibung frühmittelalterlicher Busspraxis. Burchards Liber corrector und seine Quellen’, in: Bischof Burchard von Worms, ed. W. Hartmann (Mainz 2000) 199–226. dem kirchlichen Recht und zum Teil sogar im Widerspruch zu dessen Normen entwickelt und durchgesetzt hatte.3 Diese Situation spiegelt sich auch darin, dass die neue Praxis von einem neuen literarischen Genre vermittelt wurde, nämlich von den frühmittelalterlichen Bussbüchern.4 Die altkirchliche Busspraxis war dagegen durch Bestimmungen spätantiker Synoden und päpstliche Entscheidungen geregelt worden, die im frühen Mittelalter weiterhin in kirchenrechtlichen Sammlungen tradiert wurden. Nur wenige dieser alten Synodalkanones haben freilich in den Bussbüchern Berücksichtigung gefunden; diese entnahmen ihren Stoff vielmehr zum grössten Teil eigenen Quellen, nämlich den Kompilationen der irischen Äbte Cummean und Columban oder den Sammlungen von Busssatzungen des angelsächsischen Erzbischofs griechischer Herkunft, Theodor von Canterbury.5 Weniger klar stellt sich die Trennung von tradiertem Kirchenrecht und neuen Busssatzungen allerdings auf der Ebene der konkreten Überlieferungsträger dar. Die einzelnen Handschriften, denen wir unsere Kenntnis von frühmittelalterlichen Bussbüchern verdanken, tradieren häufig zugleich Sammlungen des kirchlichen Rechts.6 Dem Benützer solcher Handschriften also präsentierten sich Busssatzungen der Bussbücher und Kanones der kirchlichen Synoden im Zusammenhang: Dieser Befund hat die Frage aufgeworfen, welche Relevanz solchen Zusammenstellungen in der Praxis zukommen konnte. Konnte ein grosser, unhandlicher Codex überhaupt in der Busspraxis zu Rate gezogen werden, wenn der Priester einem Büsser eine bestimmte Bussauflage erteilen musste? Können wir uns Handschriften, die Bussbücher gemeinsam mit umfangreicheren kanonistischen Sammlungen überliefern, in der Hand von einfachen Priestern vorstellen, die doch nach der neuen Praxis das Bekenntnis entgegennahmen und die Bussleistungen bemessen mussten? Damit stellt sich die Frage nach der praktischen Relevanz der auf diese Weise überlieferten Bussbücher. Franz Kerff hat auf den beschriebenen Überlieferungsbefund die These gegründet, dass viele der im Kontext kirchenrechtlicher Sammlungen überlieferten Bussbücher überhaupt nicht in der Busspraxis benützt worden seien, sondern wie die Synodalkanones dem Bischof zur Entscheidungsfindung im herkömmlichen 3. Cf. M. Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Busswesen im hohen und späten Mittelalter (Tübingen 1995). 4. Cf. C. Vogel, Libri paenitentiales (Typologie 27; Turnhout 1978, Supplement, hg. v. A. Frantzen, 1985); R. Kottje ‘Bussbücher’, LMA 2 (1982) 1118–22; L. Körntgen, ‘Bussbücher’, LThK3 2 (1994) 822–24; idem, ‘Bussb ücher’, Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht 1 (2000) 307–9; R. Meens, Het tripartite boeteboek. Overlevering en betekenis von vroegmiddeleeuwse biechtvoorschriften (Hilversum 1994) 11–72. 5. Cf. L. Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bussbücher (Sigmaringen 1993) 1–4; Meens, Boeteboek 25–42. 6. Cf. Meens, Boeteboek 220–66; idem, ‘The Frequency and Nature of Early Medieval Penance’, in: Handling Sin, ed. P. Biller (Woodbridge 1998...

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