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[4] Ein Kanonist bei der Arbeit Kleine Rechtstexte aus Codex Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón Ripoll 77 Gerhard Schmitz n Was macht ein Rechtsgelehrter, wenn er praktisch arbeitet? Er liest, denkt und schreibt. Das war im Mittelalter nicht anders als es heute ist. Praxis kann nicht nur heissen : Anwendung, Exekution des Rechts, Umsetzung von Vorschriften in Verfahren und Urteil. Der Anwendung geht die Bildung von Rechtsauffassungen und das Studium des Überkommenen voraus. Die Formung bestimmter Rechtsanschauungen ist ein aktiver Aneignungsprozess, in dem die Traditionsmasse kritisch gesichtet und interpretiert, kommentiert, komprimiert oder auch neu formuliert wird. Wir können solche Prozesse nicht allzu oft verfolgen. Was sich uns in den Handschriften präsentiert, sind häufig lediglich Exzerpte von Kanones oder Rechtssätzen anderer Provenienzen, deren Zustandekommen und Zusammenstellung uns manchmal willkürlich erscheint—oft genug wahrscheinlich nur deshalb, weil wir das dahinter stehende Erkenntnisinteresse nichterkennen(können).SelbsterklärendersindindieserHinsichtGlossen,siespiegeln den individuellen Aneignungs- und bisweilen auch Transformationsprozess viel besser. Fast am Ende stehen die Streitschriften, seien es ausformulierte Texte oder eben eher rudimentäre bis pointierte Bemerkungen, wie zum Beispiel die bissigen Kommentare zu ‘einigen der sogenannten Sirmond’schen Constitutionen’,1 wie wir sie beispielsweise der spitzen Feder des Florus von Lyon verdanken—jüngst neu und erstmals vollständig herausgegeben von Klaus Zechiel-Eckes.2 Deren einziger Sinn und Zweck war es, den 57 1. Aus dem Titel von F. Maassen, ‘Ein Commentar des Florus von Lyon zu einigen der sogenannten Sirmond’schen Constitutionen’, Sb. Wien 92.2 (Wien 1878) 301–25. 2. ‘Florus’ Polemik gegen Modoin. Unbekannte Texte zum Konflikt zwischen dem Bischof von Autun und dem Lyoner Klerus in den dreissiger Jahren des 9. Jahrhunderts’, Francia 25 (1998) 34–38. Florus-Kontrahenten Modoin von Autun als inkompetent erscheinen zu lassen und lächerlich zu machen. Dies alles sind Texte, die sich durchaus auch unter dem Begriff der ‘Rechtspraxis’ fassen lassen. Aneignung, Verständnis und Neuformulierung von längst gesetztem und oft genug auch gedankenlos tradiertem Recht zwecks Erfassung und Bewältigung rechtlicher Probleme der jeweiligen Gegenwart ist die Aufgabe jedes ‘Intellektuellen’, der nicht nur stumpfer Exekutor, sondern auch ‘Rechtsdenker’, ‘Rechtsgelehrter’ sein will. Im folgenden möchte ich zu diesem Problemkreis einen kleinen Beitrag leisten. Es geht dabei um kleine Texte, die in einer wenig, besser: fast unbekannten Handschrift stehen, aus der Karolingerzeit stammen, in dieser Form nirgendwo nachgewiesen werden können und die nach meinem Dafürhalten von eben jenem problemorientierten Aneignungsprozess zeugen. Die Rede ist von der Handschrift Barcelona, ACA Ripoll 77. Dabei handelt es sich um eine von dem Ripoller Bibliothekar Antonio d’Olmera y Desperat 1776 angefertigte Kopie einer ‘wohl karolingischen Vorlage’.3 Nach einem Datierungsvermerk auf dem letzten Blatt hat er sie dem Kloster am 15. Januar 1776 geschenkt.4 Der Bibliothekar von Ripoll hat bei seiner Abschrift eine vorbildlich-philologische, geradezu moderne Haltung an den Tag gelegt: Denn das Latein seiner Vorlagehandschrift war miserabel. Der Codex strotzte nur so von Fehlern und Versehen, die zu korrigieren dem Abschreiber hätte in den Fingern jucken müssen.5 Olmera hingegen schrieb sämtliche Fehler mit ab. Denn wenn er korrigierend und bessernd eingegriffen hätte, wäre es, so formulierte er, nicht mehr sein Vorlagecodex gewesen, sondern ein neues Werk und die Verbesserung in Wahrheit eine Verschlechterung.6 Die Entscheidung, den Codex abzuschreiben, sollte sich als sehr wertvoll erweisen: Die Vorlagehandschrift ist nämlich beim Brand des Klosters 1835 vernichtet worden. Olmera y Desperat schätzte das Alter seiner Vorlage auf wenigstens 800 Jahre, so dass diese auf jeden Fall in das 10. Jahrhundert zu datieren wäre, obgleich sie von García und Ewald in das 10.–11. Jahrhundert gesetzt wurde.7 Letzteres bezieht sich aber vermutlich auf den dem flüchtigen Leser gleich ins 3. H. Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 1; Berlin und New York 1975) 261. 4. Barcelona, ACA Ripoll 77, fol. 63r: ‘Dabam Rivipulli decimo octavo calendas Februarii Anni 1776; Dom. F. Antonius de Olmera, et de Desprat, Monachus ac Bibliothecarius Rivipulli’. 5. Ibid. fol. 4r, in seiner Vorbemerkung: ‘Librarium vero, qui cum scripsit latinae linguae omnino rudem fuisse constat, non ex barbarismis, et soloecismis, quibus scatet; hoc enim vitium, quia commune non tam scriptori, quam aetati illi ferreae est adscribendum; sed ex notabili defectu intelligentiae latinae linguae ex quo innumera vocabula.......et dictiones, nec latinas, nec barbaras, nec sensum ullum habentes transcripsit Librarius ille’. 6. Ibid.: ‘Mihi autem religio, fuit Codicem illum, ita reddere, qualem...

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