- Fallgeschichte(n) als Narrativ zwischen Literatur und Wissen ed. by Thomas Wegmann and Martina King
Der vorliegende Band unternimmt eine an sich höchst interessante Gratwanderung: Sind Fallgeschichten der Literatur oder dem Wissen zuzuschlagen—oder zwischen beiden? Dabei irritiert allerdings gleich von Beginn an, dass so Literatur nicht Wissen sei, dass Beispiele oder Fälle nicht Wissen, vielmehr bloß Konkretionen wären, eine Konstellation, die Wittgenstein anders formuliert, auf den aber Wegmann in seiner Einleitung zugleich eingeht, als wäre damit diese Frage zugunsten des Titels entscheidbar gewesen. “Die Welt ist alles, was der Fall ist” (7–25, 7), was ist das Wissen? Dem folgen im Grunde fast 20 Seiten abstracts.
Ganz so klar ist alles dann aber nicht, wo sich die Autoren in der Tat in Texte vertiefen, in die “Generierung von ‘Wissen’” (33), die aus Kriminalgeschichten etwa Ort liest (27–48)—die womöglich nicht zufällig ein Genre sind, das Wittgenstein mochte, wie man hinzusetzen möchte. Hochinteressant ist ja hier auch der Perspektivenwechsel: das “’Gewissen’ des Verbrechers als selbstreflexiver und forensischer Wissensmodus” (37).
Nicht unähnlich argumentiert Peck zu Serienfälle(n) in seiner Darstellung von “Medizin, Kriminalanthropologie und Literatur” (225), wobei die Spannung zwischen “delinquente(m) Individuum” und “der sozialen Grammatik” (234) “transitive Räume” (242) schaffe (225–42).
Symptome rückt Retzlaff ins Zentrum (49–61). Hier ist der, der symptomatisch sei, gelesen, kein souveräner Erzähler seines Geschicks, selbst dann, wenn er wie Adam Bernd seine eigene Lebens-Beschreibung vorlegt, die die “Einbildungskraft” des Erzählers als “nicht steuerbar” (55) kolportiert und lesen lässt.
Zur “Episteme des ‘Falls’” (63) stellt auch Berg Reflexionen an, und zwar [End Page 151] anhand der verführten Unschuld (63–94). Dabei ist der Fall nicht grundlos unter Gänsefüßchen, wie es bei anderen das Wissen ist—das semantische Feld wird gleich mitbeackert, “Fall-Gesetz” (65), “Fallhöhe” (69), “Sündenfall” (71), “Todesfall” (73), “Affekt-Anfälle”, aber auch “Überfälle” (75), “Unfälle” (78), “Fallstricke” (79), “Einfälle” (81), “Vorfälle” (82), “Lichteinfall” (86), “Kunst zu gefallen” (91)—ein wenig kalauerhaft ist diese Methode, methodisch fast ein, pardon, Verfall.
Widder untersucht Narrative, und zwar des Romans und des Falls bei Moritz (95–118). Die “Doppelbödigkeit” (118) gestatte dabei die Verortung und die Authentizität derer, von denen er handle.
Der Fall als Teleologie ist die “Aufklärungspädagogik” (119), welcher sich Düwell widmet (119–37). “Beobachtung und Kontrolle” (123), die Auflösung des Falles in einer Universalität des Menschlichen—weshalb die “Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere” (129) fast schon eine Aporie ist, die sich ebenso zu untersuchen lohnt, wie das Scheitern. “Abschreckende Falldarstellungen” (133) sind freilich nur eine Hälfte dessen, worum es gehen könnte, die andere wird nicht einmal eigentlich angedeutet, Goethes Imperativ nämlich, der doch naheläge: “Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem Höchsten./Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.”
Martus’ greift die Zwischenstellung zwischen Kasus und Erzählung als Begriffspaar in “Pathographie und Kunst” (139) lesenswert auf, anhand von Büchners Lenz (139–66). Dabei wird die Sensibilität, die das Erzählen ermöglicht, aber auch desavouiert, beschrieben, “das Ineinanderfallen von Außen- und Innensicht” (151) dabei als Risiko und Chance.
In Hubmanns Beitrag wird das Gemeindekind Ebner-Eschenbachs als Fall aufgerollt (167–93). Dabei wird der Begriff der Biopolitik gewinnbringend in Anschlag gebracht, als Hemmnis wie als Möglichkeit, die “Wunschvorstellung einer biopolitischen Selbstregulation” (193) wird dabei rekonstruiert und problematisiert.
Die Gleichsetzungen von Pychiater, Psychopat und Literat im Falle Panizza analysiert Bachmann, wobei die normierenden Diskurse die Gleichsetzungen teils rechtfertigen, Krafft-Ebings Psychopathia sexualis als nur segensreich zu sehen, ist schwer möglich (195–223, 197).
Wie solle man also lesen? Diese Frage stellt King explizit (243–72). Sie kehrt an die Grenzlinie zurück, was sei wahrer, die “Lügenhaftigkeit” der [End Page 152] “Möglichkeitsbedingungen der Kunst” (272) oder das Fragile der Symptome, die gelesen und kolportiert doch bleiben?
Und ist Literaturgeschichte immer auch...